2) BESCHREIBUNG DER TEXTSORTE ‘REZENSION’ (nach BRINKER 21988)

 

 

Eine Analyse der gesammelten Texte setzt die Homogenität der Texte untereinander voraus, d.h. sie müssen einer einheitlichen Textsorte zuzuordnen sein, die durch differenzierte Merkmale zu beschreiben ist.

Die praktische Zuordnung von Texten zu bestimmten Textsorten bereitet dabei weniger Probleme als die theoretische Merkmalsanalyse der einzelnen Textsorten.

 

 

Umgangssprachlich beherrschen wir solche Unterscheidungen [z.B. ‘politische Rede’, ‘wissenschaftlicher Diskurs’, ‘Predigt’, ‘Werbetext] mehr oder weniger gut. Probleme ergeben sich allemal bei der Definition solcher Sorten von Texten nach intensionalen Kriterien.“ (WIENOLD 21975, 144)

 

 

Intuitiv erkennen wir, ob ein Text zur Textsorte ‘Rezension’ gehört oder nicht, da „sowohl unsere Textproduktion als auch unsere Textrezeption im Rahmen von Textsorten erfolgt.“ (BRINKER 21988, 118) Schwieriger gestaltet sich die Festlegung der konstitutiven Textsortenmerkmale zur Unterscheidung von anderen Textsorten[1].

Natürlich setzt die Diskussion über Textsorten einen einheitlichen Text- und Textualitätsbegriff voraus und umgekehrt:

 

 

 

 

 

 

Man kann sagen, daß eine exakte Beschreibung der Textualität von Texten eine Texttypologie voraussetzt, mit der sich die Textsortenzugehörigkeit konkreter Texte eindeutig bestimmen läßt, denn letztlich können nur auf einer solchen Grundlage textsortenspezifische Merkmale von generellen, d. h. allen Textsorten gemeinsamen Eigenschaften unterschieden werden. (BRINKER 21988, 119, Anm. 2)

 

 

Dennoch erübrigt es sich in unserem Untersuchungsrahmen, auf die Diskussion um den Textbegriff einzugehen. Folgende sieben Merkmale betrachten wir mit SOWINSKI (1983, 53f.) neben der generellen kommunikativ-situativen Bindung als entscheidend für die Textualität eines Textes: Kohäsion (Verbindung der Worte in der Textoberfläche), Kohärenz (semanti­scher Textzusammenhang), Intentionalität (Textabsicht), Akzeptabilität (Einstellung des Rezipienten, die Äußerung als Text anzuerkennen), Informativität (Neuigkeit, Unerwartetheit eines Textes), Situationalität (Situationsangemessenheit), Intertextualität (Abhängigkeit von anderen Texten).[2]

Für unsere Untersuchung schließen wir uns der handlungstheoretisch ausgerichteten Textsorten-Definition BRINKERs (21988, 124) an:

 

 

Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben.

 

 

2.1) TEXTFUNKTIONEN UND HANDLUNGSMUSTER DER REZENSION

 

Die Textfunktion läßt sich mit GROSSE (1976, 26) als eine Verstehensanweisung des Schreibers über seine Intention(en) an den Leser beschreiben. Der Leser wird informiert, als was er den Text auffassen soll.

 

 

Der Emittent will den Rezipienten entweder dazu bringen, eine bestimmte Handlung zu tun (Anweisung, Auftrag) bzw. eine bestimmte Einstellung zu gewinnen (Kommentar), oder er will den Rezipienten über einen bestimmten Sachverhalt, ein bestimmtes Ereignis informieren (Nachricht) oder die Übernahme einer Verpflichtung signalisieren (Gelöbnis). (BRINKER 21988, 121)

 

 

Das bedeutet demnach, für die Ermittlung der Textfunktion(en) ist zu fragen, „warum und wozu ein Text geschrieben bzw. gesprochen wurde“. (SCHWITALLA 1981, 211) Dabei ist zu beachten, daß die Intentionen des Schreibers durch den Rezipienten nur erschlossen werden können.[3] Die Grundfunktionen WERTEN und INFORMIEREN sind schon durch die Etymologie des Wortes Rezension verbürgt: Mit der Bedeutung ‘Würdigung eines neu erschienenen Buches‘ wird das Substantiv wie das Verbum rezensieren im 17. Jahrhundert aus dem lat. recensere ins Deutsche entlehnt. (Vgl. KLUGE 121989, 598)

 

>Rezensieren< vermittelt der deutschen Gelehrtensprache dabei zwei semantische Aspekte der Buchbesprechung: Werden mit dem Verbum >recensere< zum einen Gegenstände gemustert, gezählt und wiedererzählt, so konnotiert seine metonymische Verwendung andererseits zugleich eine Ebene des kritischen, rationalen Einschätzens, der erwarteten Stellungnahme. Die Begriffsgeschichte von >Rezension< steht also von Beginn an im Spannungsfeld von referierender Darstellung und kritischer Beurteilung. (HUBER u.a. 1993, 271)

 

 

Der DUDEN vermerkt unter dem Stichwort Rezension: „1. kritische Besprechung eines Buches, einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, künstlerischen Darbietung o. ä., bes. in einer Zeitung od. Zeitschrift [...].“ Im WDG (1981, 3038) findet sich eine vergleichbare Bedeutungsangabe: „Kritische Besprechung, Beurteilung einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistung in einer Zeitschrift oder Zeitung, im Rundfunk oder Fernsehen [...].“ Auch literaturwissenschaftliche Wörterbücher bezeichnen unter dem Stichwort Literarische Kritik[4] die Bewertung als die Hauptaufgabe der Kritik:

 

 

Literarische K.[ritik] als Beurteilung von Dichtungen im Ggs. zur referierenden Literaturwissenschaft und regelsetzenden früheren Poetik verfolgt praktische Zwecke e. Vermittlerstellung zwischen Dichtung und Publikum: Aufdeckung der Werte und Schwächen e. Werkes und Analyse seiner Wirkungsursachen. (WILPERT 61979, 433)

 

Literarische Kritik: [...] Sie hat Rechenschaft über den künstlerischen und menschlichen Wert eines Werkes zu geben. (KAYSER 31961, 136)

 

 

Ebenso finden sich auch die beiden anderen Basishandlungen INFORMATION (ein Rezensionsgegenstand wird beschrieben)[5] und AUFFORDERUNG (ein Rezensionsgegenstand wird empfohlen)[6].[7]

Im Gegensatz zu den oft unbefriedigenden Ansätzen, die die Textsorte Rezension im Rahmen sämtlicher sprachlicher Textvorkommen, aller Darstellungsarten und Handlungsmuster betrachten, behandelt LÜGER in seinem Buch „Pressesprache“ (21995) die Textsorte ‘Rezension’ innerhalb des Kanons journalistischer Textsorten. Er unterscheidet fünf Typen von in Pressetexten realisierten Intentionen (LÜGER 21995, 77ff.):

·      Kontaktorientierte Texte,

·      informationsbetonte Texte,

·      meinungsbetonte Texte,

·      auffordernde Texte,

·      instruierend- anweisende Texte.

Die Kritik ordnet LÜGER den meinungsbetont-persuasiven Texten zu, wobei er durchaus auch die Textfunktionen INFORMIEREN und (Kauf-)APPELL konstatiert (LÜGER 1983, 88).

Das persuasiv-appellative Moment der Rezensionen hebt sehr stark MECKLENBURG (1977, 35f.) hervor.[8] Davon ausgehend betrachtet er die Rhetorik als Basis für die Literaturkritik insgesamt. Zunächst teilt er die Kritik der Gruppe der nichtfiktionalen, ‘expositorischen’ Text-sorten zu, d.h. Textsorten mit informierender, erläuternder Gebrauchs- bzw. Zweckfunktion. Wie bei jedem pragmatischen Text müsse die rhetorische Dimension berücksichtigt werden, mit der - wie schon im antiken Rhetorikkonzept - das Ziel der persuasio des Gegenübers verfolgt wird: „[...] das persuasive Moment [ist] für Literaturkritik geradezu konstitutiv“. (MECKLENBURG 1977, 35) Da außerdem die Geltungsprüfung des ästhetischen Urteils diskursiv zu erfolgen habe und nicht nach einer objektiven Regel - wie KANT in seiner „Kritik der Urteilskraft“ schon dargelegt hat -, sei der appellative Charakter der Literaturkritik von vorneherein inhärent. Es überwiegen Appelle zu affirmativem Leserverhalten, deren Erfolg oder Mißerfolg weitgehend unbekannt bleibt, weil das Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Kritiker und Opponent/Leser durch die einseitige und indirekte Kommunikationssituation beeinträchtigt ist (s.u. Kap. 2.4).

Differenziert versucht ZILLIG (1982 b) - ausgehend vom Sprechaktbegriff AUSTINs und SEARLEs - die Textakte[9] der Textsorte ‘Rezension’ anzugeben, allerdings auf der Basis einer Untersuchung von 50 Rezensionen sprachwissenschaftlicher Veröffentlichungen. Er kommt auch auf der Basis seines andersartigen Textkorpus zu dem Ergebnis, daß für die Textsorte ‘Rezension’ die beiden einfachen Textakttypen INFORMATION und BEURTEILUNG konstitutiv sind.[10] Nimmt man seine Ergebnisse als Anregung für die Betrachtung von Literaturkritiken, kann man folgende Punkte unterscheiden (ZILLIG 1982 b, 200f.): INHALTSINFORMATIONEN, HINTERGRUNDINFORMATIONEN und TECHNISCHE INFORMATIONEN, d.h. er schafft eine Einteilung nach den Gegenständen, über die informiert wird.

(1) INHALTSINFORMATIONEN geben an

a) für welchen Adressatenkreis das Werk bestimmt ist: Dies ist in der Literaturkritik weniger zu beobachten (evtl. bei Lyrikbänden, die nur für ‘geübte’ Leser von Lyrik empfohlen werden).

b) Autorenabsicht: Rezensenten geben zwar häufig eine Absicht des Autors an, doch ist hier zu fragen, inwieweit es sich um Unterstellungen handelt, die für das URTEIL bedeutsam sind, da der Autor selbst selten seine Absicht explizit mitteilt.

c) Inhalte: Für die Literaturkritik sind hier Angaben zur Gattungszugehörigkeit und zur Handlung des Werks relevant, wobei die Nacherzählung und die Auswahl der Zitate dem Textakt URTEIL nahestehen können. RUTSCHKY (1988, 624) bemängelt daher: „Als erstes müßte der angehende Kritiker vermutlich genaues Nacherzählen lernen“. CRAMER (1985, 18) verweist in diesem Zusammenhang auf drei Rezensionen zu Werken Peter Handkes, die an die Stelle einer kritischen Analyse eine höhnische Nacherzählung setzen.[11]

 

(2) HINTERGRUNDINFORMATIONEN:

a) Entstehungshintergrund: Lebensphase und -umstände des Autors, politische, soziale, wirtschaftliche Hintergründe; Zugehörigkeit des Autors zu einer ‘Schule’.

b) bisherige Werke zu einem ähnlichen Thema, mit ähnlichen Zielen; literaturgeschichtliche Einordnung.

c) bisherige Aufnahme des rezensierten Buches; andere Kritiken, Literaturpreise, Bücher-Bestenlisten.

 

(3) TECHNISCHE INFORMATIONEN:

Am Anfang oder Ende der Rezension: Vor- und Zuname des Autors, Titel des Buches, Verlag, Erscheinungsort und -jahr, Anzahl der Seiten und Preis; Name des Rezensenten.

 

ZILLIG (1982 b, 201-204) teilt im Textakt URTEIL seine Auflistung nach den ‘Werten’ ein, d.h. nach den Forderungen des Rezensenten an das Buch und ihre Erfüllung bzw. Nichterfüllung.[12] Da für die Literatur keine normative Ästhetik mehr besteht, können die ‘Werte’ für den Textakt URTEIL in Rezensionen literarischer Werke nur aus dem Sprachgebrauch erschlossen werden.[13]

Ein zusätzlicher Textakt, der für die Rezensionen sprachwissenschaftlicher Veröffentlichungen irrelevant, für die journalistischen Publikationsorgane von Literaturkritiken aber geradezu konstitutiv ist, ist der Textakt LESEANREIZ, der durch die Überschrift[14] (und teilweise auch durch Teile der Rezension) realisiert wird.[15] Die Überschrift soll überraschen oder belustigen und damit Kontakt herstellen und zur Lektüre der Rezension anregen, wie in folgendem Beispiel, in dem die contradictio in adiecto überrascht: Lustige Leichen (FAZ 5.7.88, Jörg von UTHMANN über Eckhard HENSCHEID: „Wir standen an offenen Gräbern“)

SANDIG (1971) hat in ihrer Typologie bei Zeitungsüberschriften eine Verringerung von Redundanz diagnostiziert: einerseits durch Ersparung, die nur die Ausdrucksseite vermindert und das, was im Vergleich zum vollen Satz fehlt, impliziert[16], andererseits durch Auslassung, die Ausdrucks- und Inhaltsseite vermindert und dadurch einen besonderen Lektüreanreiz schafft.[17]

Artikelüberschriften dienen jedoch auch allgemein der Leserorientierung bei der Informationsselektion und enthalten oft eine Mitteilung darüber, um welche Art der Information es sich im nachfolgenden Text handelt: Das ‘Wie’ und ‘Was’ einer Information kann sich schon im jeweiligen Titel ankündigen, der damit PRÄSIGNALE für die nachfolgende Rezension liefert. (LÜGER 1977, 263) Auch Umberto ECO (1971, 354) beschreibt die Überschrift als ausschlaggebende, prädeterminierende Instanz des Rezeptionsprozesses:

 

 

Il titolo decide dell’interpretazione dell’articolo. [...] Il titolo funge cioè da ‘codice’ per il resto dell’articolo. Se non lo sostituisce, nel senso che il lettore riceve l’informazione data dal titolo e trascura l’articolo, determina tuttavia il modo in cui l’articolo sarà letto.

 

 

Die Überschrift dient als metatextuelle Information für den Rezipienten und zeigt ihm, als was er den Artikel aufzufassen hat.[18] Häufig sind auch Überschriften zu beobachten mit expliziten Wertungssignalen, wie z.B.: Selbstbewimmerung (SZ 15.6.88, Jörg DREWS über Ulla HAHN: „Unerhörte Nähe“); Gähnen ohne Anlaß (FAZ 8.1.88, Gert UEDING über Ror WOLF: „Mehrere Männer“); Ein ganzes Stück daneben (SZ 6.10.88, Johannes HAUCK über Thomas MEINECKE: „Holz“).

Ebenso werden literarische Zitate oder Sprichwörter - auch verfremdet - als rezeptionssteuernde Signale in der Überschrift gebraucht, oft nur in der Funktion des Leseanreizes oder aber in der Funktion

 

 

der zusammenfassend-interpretierend-wertenden Vorwegnahme des Hauptinhalts eines Beitrags; sie steuern damit die Rezeption des Beitrags selbst. Zugleich erwecken sie Spannung [...] (KOLLER 1975, 404)

 

 

Beispiele hierzu aus dem Textkorpus:

Eine Anspielung auf Uwe Johnson benutzt WEINZIERL für seine Überschrift Mutmaßung über Jakob (FAZ 17.12.88, Ulrich WEINZIERL über Norbert GSTREIN: „Einer“).

Auf Eichendorffs „Schläft ein Lied in allen Dingen“ weist folgende Überschrift hin: Schläft ein Verhängnis in jedem Wort (SZ 17.2.88, Thomas KEMPF über Matthias POLITYCKI: „Aus Fälle“).

Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ klingt an in Die Welt als Wille und Erfindung (ZEIT 4.3.88, Klaus MODICK über Christian ENZENSBERGER: „Was ist Was“).

Ein Sprichwort verfremdet die Überschrift Nachts sind alle Katzen schwarz (FAZ 8.10.88, Reiner HANK über Hansjörg SCHNEIDER: „Der Wels“).

 

Zusammenfassend sind für das dieser Arbeit zugrundeliegende Textkorpus folgende Textfunktionen festzustellen: BEWERTEN (s.u.), BEGRÜNDEN (durch Beispiele, Bezug auf allgemeine Normen, Angabe der Wirkung auf den Rezensenten), BESCHREIBEN (s.o. HINTERGRUNDSINFORMATIONEN), ERZÄHLEN (s.o. INHALTSINFORMATIONEN), LESE­ANREIZ, EMPFEHLEN/ABRATEN.

 

 

 

 

 

2.2) THEMA UND INHALT VON REZENSIONEN

 

Ein weiteres Textsortenmerkmal ist der Textinhalt oder das Textthema, d.h. die Frage, worüber in einem Text etwas gesagt wird und was darüber gesagt wird. Das Textthema läßt sich als das Konzentrat eines Textes auffassen:

 

 

Das Textthema (als Inhaltskern) ist entweder in einem bestimmten Textsegment (etwa in der Überschrift oder einem bestimmten Satz) realisiert, oder wir müssen es aus dem Textinhalt abstrahieren, und zwar durch das Verfahren der zusammenfassenden (verkürzenden) Paraphrase. (BRINKER 21988, 51)

 

 

Bei Rezensionen ist die inhaltliche Eingrenzung unproblematisch: Sie müssen Aussagen über einen Rezensionsgegenstand enthalten. „Er kann eine wissenschaftliche Arbeit, eine künstlerische Arbeit oder ein kulturelles Ereignis sein (z.B. Film- oder Theateraufführung, Konzert, Ausstellung etc.).“ (RIPFEL 1989, 32) Die Rezensionsgegenstände der hier untersuchten Texte sind neu erschienene Bücher auf dem Gebiet der Literatur, z.B. Romane, Erzählungen, Lyrikbände, d.h. „daß der Gegenstand, der in den Exemplaren dieses Texttyps behandelt wird, immer ein veröffentlichter Text ist.“ (ZILLIG 1982 b, 199) Diese Gegenstände werden (s.o. Kap. 2.1) BESCHRIEBEN, BEWERTET und manchmal werden die Bewertungen BEGRÜNDET.

 

 

2.3) AUFBAU UND SPRACHLICHE MERKMALE VON REZENSIONEN

 

Literaturkritiken sind in allen drei untersuchten Zeitungen der Rubrik ‘Feuilleton’ zugeteilt. Der Rubriktitel Feuilleton dient dem Leser als Präsignal, daß er Beiträge aus dem kulturellen Bereich zu erwarten hat. Ebenso setzen alle drei Zeitungen innerhalb des Feuilletons als Verstehensanweisung für die einzelnen Rezensionen am Kopf der Seite das Präsignal Literatur. Der Leser weiß somit, daß er nicht mit Rezensionen von Sachbüchern, sondern belletristischer Bücher konfrontiert wird.

 

 

Die ZEIT fügt oft über die fettgedruckte Überschrift noch eine weitere, unterstrichene Überschrift hinzu, die den Inhalt andeutet oder das Werk einordnet, d.h. die meist konkreter ist als die fettgedruckte Überschrift:

 

 

Bilder einer Heimkehr in die Fremde

Utopie vom Tod

Herta Müllers eindringlicher Prosaband „Barfüßiger Februar“. (ZEIT 11.3.88, Marina MÜNKLER über Herta MÜLLER)

 

 

Surrealistische Phantasien und Parodien aus der DDR

Wottka-kalé! Wottka-kalé!

„Schichtenflotz“: Adolf Endlers satirischer Seesack (ZEIT 22.4.88, Hajo STEINERT über Adolf ENDLER)

 

 

Die fettgedruckte Überschrift enthält lesewerbende Elemente (s.o. Kap. 2.2), teils auch Wertung, oft nur ein charakteristisches Zitat aus dem rezensierten Buch. Wenn die fettgedruckte Überschrift noch nicht Autornamen und Buchtitel enthält, erscheinen beide Informationen im Untertitel. Am Anfang oder am Ende der Rezension erhält der Leser bibliographische Informationen zum besprochenen Buch. Meist am Ende, teils aber auch vor Beginn des Textes steht der Name des Rezensenten.

Zum weiteren Aufbau der Kritik lassen sich kaum allgemeingültige Aussagen treffen: Kein Kritiker hält sich an ein Schema - wie z.B. bei LÜGER (1983, 88) angedeutet - mit Einleitungsteil (literaturgeschichtliche Zusammenhänge, aktuelle Tendenzen, bisherige Publikationen des Künstlers), speziellerer referierender Darstellung, Beurteilung und evtl. Überleitung zu einem Kaufappell. Denn gerade in Rezensionen zu literarischen Werken möchte der Rezensent seine Individualität hervorheben. Dies findet auch in der Sprache der Rezensionen seinen Ausdruck.

Allgemein betrachtet wird die sprachliche Gestaltung der Rezension bedingt durch

·      den Individualstil des Rezensenten,

·      den Rezensionsgegenstand,

·      den zur Verfügung stehenden Platz und

·      den Charakter des Publikationsorgans.

Von der Kritikvorlage beeinflußt und die Individualität des Rezensenten heraushebend, sind die ästhetisierenden Sprachtendenzen[19], „nach Originalität strebende, bewußt von der Gemeinsprache abgehobene Ausdrucksweise, die für den Leser ein hohes Anspruchsniveau signalisieren soll“. (LÜGER 1983, 88) Naheliegend ist eine Angleichung an den rezensierten Text, da die häufigen Zitate des Primärtextes zusammen mit dem Meta-Text der Rezension eine homogene Einheit bilden sollen.

DOVIFAT (1967, I 143) sieht die verwendeten Bilder, Wortkombinationen und die wenig konkrete Semantik als Beispiel einer „schönen, dem Kunstwerk kongenialen Form des sprachlichen Ausdrucks“ an und stellt sich damit in die romantische Tradition der Literaturkritik, wie sie Friedrich Schlegel geprägt hat: „Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, hat gar kein Recht im Reiche der Kunst.“[20] Man kann jedoch diese „poetischen“ Phänomene auch negativ interpretieren,

 

 

daß aufgrund einer vagen und klischeehaften Formulierungsweise die Kritik eine klare Referenzzuweisung erschwert und so zum Selbstzweck werden kann. Im Mittelpunkt steht dann nicht allein der zu besprechende Gegenstand, sondern ebenso ein Kunstanspruch der Kritik selbst; diese wird, wie Brecht es ausdrückt, zur ‘kulinarischen Kritik’, die ihren Gebrauchswert zugunsten ästhetischer Maßstäbe zurückstellt. (LÜGER 1983, 89)

 

 

Dieser Gefahr erliegt z.B. Joachim KAISER in einer Kritik aus dem Jahr 1987 (SZ 3.12.87), der in seinen Ausführungen zu Ilse Aichingers „Kleist, Moos, Fasane“ sogar explizit formuliert, daß er das Buch nicht besprechen wolle:

 

 

Es wäre absurd, dieses Buch zu rezensieren. Man kann nur darauf hinweisen, daß hundert einfache, verängstigte, klagende, rätselvolle Seiten von Ilse Aichinger herrlich scheu und herrlich sicher auf der Welt sind, [...].

 

 

Vielleicht aus mangelnder Kompetenz oder Unsicherheit resultiert eine vage, ambige Sprache, deren Metaphern, Begriffshülsen und vieldeutige Signalwörter um sich herum eine emotionale Aura bilden. „Wer unsicher ist in der Sache, unbestimmt im Gefühl, der sucht die schillernden Ränder der Wörter.“ (LESLE 1981, 82) Auch hierfür liefert Joachim KAISERs Kritik zu Ilse Aichingers Buch mehrere Beispiele: Er fragt, was an Ilse Aichinger so liebenswert sei, und gibt folgende Antworten:

 

 

Daß sie von Geheimnisvollem sprechen kann, ohne aufzutrumpfen. Daß sie Magie herstellen kann, ohne damit imponieren zu wollen [...]. Daß der Stoff des Lebens und Träumens und Grübelns unter ihren Händen radioaktiv wird.

 

 

Die Semantik dieser Sätze bleibt äußerst vage, die Verwendung des Adjektivs radioaktiv gibt dem Leser Rätsel auf.

Ebenso fraglich ist der Wert folgender Aussage F. J. RADDATZ’ zu Sarah Kirschs Lyrikband:

 

 

Was für ein wunderliches Buch! Durchsichtig und uneinsehbar zugleich, gläsern zart wie die schönsten Gedichte der Sarah Kirsch und auch rokokohaft verzärtelt. (ZEIT 12.8.88)

 

 

Die Tatsache der mangelnden Verständlichkeit wirft die Frage auf, ob die Sprache der Literaturkritik als Fach- oder Sondersprache einzuschätzen ist: Fachsprachen ergänzen, was in der Gemeinsprache fehlt, Sondersprachen ersetzen, was in der Gemeinsprache bereits vorhanden ist. Besser ist die Unterscheidung von fachsprachlichen Kommunikationssituationen, die den Sachaspekt in den Vordergrund rücken, und sondersprachlichen Kommunikationssituationen, die kontaktschaffende bzw. -verhindernde Aspekte in den Vordergrund rücken.

Zweifellos sind sondersprachliche Elemente zur Bildung eines intellektuellen Wir-Gefühls und zur Ausgrenzung bestimmter Lesergruppen feststellbar, ebenso wie fachsprachliche Elemente aus der Literaturwissenschaft.[21] Das Konglomerat von fach-, sonder- und gemeinsprachlichen Elementen läßt SEIBICKE (1959, 82) von einem „Kritikerfachjargon“[22] sprechen:

 

Hier wird die Gemeinsprache „verfremdet“, „verfachlicht“. Übertriebener Gebrauch unnützer Fremdwörter - mehr oder weniger bewußt angewandt - übermäßiger Anspruch auf Fachlichkeit, Wille zur Beeindruckung durch betonte Sachkennerschaft und Sonderwissen (Expertismus), ein dem Laien unverständliches oder schwer verständliches Fachlatein - jedoch ohne die heiter-selbstironische Note des Jägerlateins - kennzeichnen diese Art von Fachjargon. Zwei entgegengesetzte Tendenzen treffen sich demnach im Fachjargon: Auflösung der fachlichen Nüchternheit und Isolierung vom Menschen her (Fußballerjargon), und Ausbreitung fachsprachlicher Erscheinungen auf die Gemeinsprache (Amts-, Journalisten-, Kritikerjargon).

 

 

Ein Beispiel für das beim Leser vorausgesetzte Fachwissen und Bildungsgut liefert KURZ:

 

 

Die Urgestalt des Gilgamesch-Mannes dialogisch nutzend, setzte die Autorin gegen den prometheisch getriebenen Täter das asianisch-mystische Bewußtsein der Frau. (FAZ 29.3.88, KURZ über LEUTENEGGER)

 

 

Bewußt oder unbewußt benutzt der folgende Rezensent das Hamlet-Zitat „von des Gedankens Blässe angekränkelt“ für eine Allusion:

 

 

Ein nahezu handlungsloses, von keinerlei intellektueller Redlichkeit oder gar sprachlichem Skrupel angekränkeltes Schwadronieren [...] (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

 

 

Der gebildete Leser erkennt die Anspielung auf Laurence Sternes „Sentimental Journey through Italy and France“ in folgender Rezension:

 

 

Vielschichtig durchgeführt ist dies Reiseexperiment [...] in einem weniger autobiographischen als psychologisch ausgefeilten Stück, der „Sentimental Journey“, der Italienreise einer Frau ohne ihren verheirateten Geliebten. (SZ 2.11.88, LEDANFF über SCHUTTING)

 

 

Vermehrt sind Anspielungen und Vergleiche in folgenden beiden Belegstellen zu finden:

 

 

Was Faulkner das Yoknapatawpha--County war, was García Márquez sein Macondo ist, eine mythisch-imaginäre Landschaft, das ist für Walser sein Dreiländereck am Bodensee. (ZEIT 16.9.88, LÜDKE über WALSER)

Ich bilde mir ein, begriffen zu haben, warum Brigitte Kronauer im „Berittenen Bogenschützen“ Joseph Conrad, Elfriede Jelinek mit “Krankheit“ Emily Bronte oder Gisela von Wysocki bei „Abendlandleben“ Apollinaire paraphrasiert haben; bei Peter Handke, der ja mit „Die Wiederholung“ nicht nur Kierkegaards Buchtitel des Jahres 1843 aufnahm, sondern dessen Grundthese von der Hoffnung als Fahrt ins Ungewisse, ins Unglück, war es von großer Evidenz. Hier ist überhaupt nicht zu begreifen, wozu die seitenlangen Montagen dienen sollen [...]. (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

 

 

Besonders RADDATZ’ Rezension zeigt, welches Sachwissen zum vollständigen Nachvollziehen der Aussagen der Rezension notwendig ist, wie klein der Kreis der Leserschaft ist, der das nötige Vorwissen mitbringt. BURGER (1984, 33) stellt dies nicht nur für Texte des Feuilletons einer Zeitung, sondern auch für Kultursendungen in Fernsehen und Radio fest:

 

 

[...] daß bestimmte Kultursendungen einen ganz engen Kreis von intendierten Rezipienten definieren. Das zeigt sich im Text durch sachliche Präsuppositionen, die nur ein Publikum mit bestimmten Vorkenntnissen zu realisieren vermag, und durch das Sprachregister, in dem Fachvokabular und Jargon dominieren.

 

 

Als Ursache für den Gebrauch von Fachvokabular und sondersprachlichem Jargon betrachtet BURGER den Umstand, daß Kulturjournalisten nur noch für Kulturjournalisten schrieben. Durch die Verwendung einer für das Feuilleton typischen Sprache

 

 

schlossen sich Kulturjournalisten und Publikum zu einer vergleichsweise kleinen und exklusiven Gruppe von Eingeweihten zusammen. Man konnte mit einem gewissen Recht sogar behaupten, daß Kultursendungen für Kulturjournalisten gemacht wurden, daß der Kulturjournalist, das eigentliche Publikum aus dem Auge verlierend, seinen Ehrgeiz darin setzte, dem Kollegen wo nicht Bewunderung, so doch Anerkennung abzuringen. (BURGER 1984, 271)

 

 

In einer Konkurrenzsituation des Rezensenten mit dem Autor des rezensierten Werkes sieht TOBLER den ästhetisierenden Jargon begründet:

 

 

Den Rezensenten geht es um nichts weniger als darum, die zu besprechende Kunst durch ihre Sprachkunst in den Schatten zu stellen, sei’s durch eine lyrische Kaskade oder einen terminologischen Kopfstand. (TOBLER 1982, 162)

 

 

Völlig überflüssige, unverständliche Bildlichkeit dokumentiert z.B. K. H. KRAMBERG in einer Rezension zu Werner KOFLER (SZ 14.9.88):

 

 

Um das, was ihm [=dem Autor] vorschwebt, bei seinen Schreibtisch-Nachtwachen zu artikulieren, hätte unserer [sic!] tapferer Autor nicht seine Ressentiments im Zaum halten müssen, wohl aber dieses störrische Lasttier, daß [sic!] ihm in der Arena uferlosen Polemisierens davongaloppiert.

 

 

DALLMANN (1979, 71) verweist in diesem Zusammenhang auf den sprachlichen Unterschied zwischen wissenschaftlichen und journalistischen Rezensionen:

 

 

Die in publizistischen Kunstrezensionen häufige Emotionalität der Bewertung entsteht meist durch expressiven Sprachgebrauch, besonders häufig durch die Verwendung von Lexik, die von der neutralen Stilschicht abweicht (z. B. umgangssprachlicher aber auch hin und wieder gehobener Lexik, dann allerdings ironisierend verwendet) durch originelle Wortbildungen, unübliche Metaphern und Vergleiche. [...] Funktional bedingte Sprachverwendungsnormen beeinflussen den Text entscheidend. Das zeigt sich eben bei unserem Vergleich unter unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen entstandener Texte in der Tatsache, daß die expressiven, die Kontakthaltung zum Empfänger zum Ausdruck bringenden sprachlichen Mittel in keiner der untersuchten Wissenschaftsrezensionen eine Rolle spielen. (DALLMANN 1979, 70f.)

 

 

Daß die gehobene Lexik ironisierend verwendet wird, kann nicht bestätigt werden; sie dient vielmehr dem Ziel, sich selbst und dem Leser Bildung zu beweisen und die Rezension aufzuwerten: Wenn Joachim KAISER (SZ 3.12.87, KAISER über AICHINGER) schreibt: Natürlich werden auch ihr [=der Autorin] nicht alle Funde zu Trouvaillen [...], dann ist ihm sicher bewußt, daß der DUDEN zu Trouvaille vermerkt: „(bildungsspr. veraltet [Herv. M. K.]): glücklicher Fund [...]“.

Solche Ausdrucksweise dient häufig - um mit ZIMMER (1986) zu sprechen - dem brillierenden „Schmock“. ZIMMER (1986, 114) teilt die Sprache im Kulturbetrieb in vier Strömungen ein, worunter eine Strömung von ihm mit „Schmock“ benannt wird.[23] Der Schmock-Stil ist - nach ZIMMER - durch häufige Verwendung sprachlicher Brillanten (s.o. Trouvaille) gekennzeichnet. Er hat das Ziel, Einfaches so zu sagen, daß es sich nicht mehr so einfach anhört, um sich selbst interessant zu machen; ebenso entsteht Schmock-Stil aus Angst vor der Banalität. (ZIMMER 1986, 115)

Was DALLMANN (1979, 70f.) weiter zu Stil und Lexik der Rezension konstatiert, ist auch am vorliegenden Untersuchungsmaterial zu bestätigen.

(1) Besonders in den Wertungen findet sich umgangssprachliche Lexik, wie z.B. Quark oder toll:

 

 

[...] wird ein unsäglicher, nicht zu referierender Quark [...] breitgetreten. (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

 

 

Der DUDEN bestätigt die umgangssprachliche Stilschicht: „[...] 2. (ugs. abwertend) (in den Augen des Sprechers) etw. Wertloses, Belangloses, etw., mit dem sich zu befassen nicht lohnt [...]“

 

 

Vielleicht die tollste [...] Erfindung Allemanns [...]. (SZ 29.5.88, DREWS über ALLEMANN)

 

 

Zu toll ist die umgangssprachliche Stilschicht nur im WDG vermerkt: „[...] 4. umg. erstaunlich, außergewöhnlich, unglaublich [...] salopp großartig, vorzüglich, prachvoll [...]“

(2) Ebenso sind originelle Wortbildungen zu beobachten, wie z.B. (Ver-)Stimmungsbilder (SZ 8./9.10.88, SCHLODDER über WOHMANN), Bausch-und-Bogen-Urteile (SZ 15.11.88, HAGESTEDT über ACHTERNBUSCH) und Möchtegernroman (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN).

(3) Darüber hinaus bemühen sich die Rezensenten um unübliche Metaphern und Vergleiche: Von-der-Stange-Geplauder (SZ 14.9.88, KRAMBERG über KOFLER), Gebrauchtwagen-Satz (FAZ 4.10.89, BUGER über ZELLER) und literarisches Recycling-Verfahren (FAZ 2.8.88, MEYHÖFER über BRÜCKNER).

Als Grund für die Expressivität der Wortwahl gibt DALLMANN (1979, 71) das Bedürfnis der Rezensenten an,

 

 

sich individuell und „spritzig“ auszudrücken. Besonders durch die Wahl des Umgangssprachlichen wird deutlich, daß der Schreiber [...] mit dem Empfänger der Äußerung [...] in Kontakt zu treten, daß er eine Atmosphäre der Vertrautheit herzustellen und damit auch eine möglichst große Zahl von Rezipienten anzusprechen wünscht.

 

 

Dies ist stilistisch als Gegenpol zur Ausgrenzung mancher Lesergruppen durch sonder- und fachsprachliche Elemente zu werten.

JOKUBEIT (1980, 128f.) weist auf ein weiteres Charakteristikum journalistischer Rezensionen hin, auf sprachliche Mittel des persönlichen Ausdrucks - doch dies ist wiederum typisch für alle meinungsbetonten Texte, also z.B. auch für Kommentare. Seine Übersicht (JOKUBEIT 1980, 130) belegt für sein Textkorpus ein starkes Übergewicht der Personalpronomina der ersten Person Singular (52,6%) und der ersten Person Plural (21,7%). Gerade dafür finden sich im untersuchten Korpus kaum Belege. Vielmehr bemühen sich die Rezensenten um verdeckte Subjektivität und benutzen die unpersönlichen Ausdrücke man oder der Leser:

Die Pronomina

 

 

Sie [=die Autorin] evoziert Bilder mit einer Eindringlichkeit, daß der Leser glaubt, nur aus dem Fenster blicken zu müssen, um sich des geschilderten Schauspiels zu vergewissern. [...] Man fragt sich, was etwa das gedankliche Schweifen über ein neues Wohngebiet mit den anschließenden Sorgen [...] zu tun hat. (SZ 19./20.11.88, BECKER über SCHMIDT)

 

 

 ich/mir/mich bzw. wir/uns sind den nicht so häufig anzutreffenden Fällen vorbehalten, in denen der Rezensent ein URTEIL in Verbindung mit einem Verb des Glaubens/Meinens/Vermutens einschränken will: [24]

 

 

Die Texte Luise Schmidts sind, wie mir scheint, nicht immer streng durchgearbeitete Gebilde. (SZ 4./5.6.88, CRAMER über SCHMIDT)

Ich kann nicht beurteilen, inwieweit Schnurre wirkliche Zigeunermentalität getroffen hat. (FAZ 30.12.88, SCHULZ über SCHNURRE)

 

 

Bei der Betrachtung des Satzmodus fallen neben der großen Überzahl von Aussagesätzen auch Fragesätze auf:

 

 

[...] - ein Plädoyer dafür, mit dem Schreiben abzuwarten, zeitlichen Abstand zu gewinnen? Nicht unbedingt - [...] (ZEIT 26.2.88, HACKL über TASSONI)

 

 

Die Reflexion des Rezensenten ist für den Leser nachvollziehbar, der sich zugleich angesprochen und eingebunden in die Argumentation fühlt. Ebenso in folgendem Beispiel:

 

 

Wenn es also so bunt zugehen kann - [...] -, warum dann manchmal so trocken und künstlich [...]? Warum manche grotesk sein wollenden Auftritte [...], die [...] einfach nur überdreht sind? Zu vermuten, daß das Scene-Buch einfach nur zu nachlässig und planlos zusammengestellt ist. (SZ 30.4/1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

 

 

Da jedoch die Fragen vom Rezensenten selbst beantwortet werden, handelt es sich nicht um echte Fragen, die „vom Angesprochenen Auskunft, Entscheidung oder Bestätigung fordern“ (FLEISCHER/MICHEL 1975, 130), sondern um rhetorische Fragen. Die rhetorische Frage

 

 

ist keine echte FRAGE, weil auf sie keine Antwort erwartet wird und weil sie gegen die FRAGE-Regel verstößt, der Fragende wisse das Gefragte nicht und wolle es wissen. (POLENZ 1985, 201)

 

 

Den folgenden rhetorischen Fragen liegt die indirekte Sprecherhandlung der BEHAUPTUNG zugrunde. Und da sind sie doch wieder, wie immer, die Schikanen der Liebe. Welcher Schriftsteller kann sie verschweigen? (SZ 25./26.6.88, AUFFERMANN über TECHEL) Die zugrundeliegende Aussage lautet: ‘Kein Schriftsteller kann sie verschweigen’.

Wer weiß schon, wie ein Meerrettich blüht? (FAZ 5.5.88, FULD über NEUHERZ) Die Basisaussage wird durch die Abtönungspartikel schon geklärt: ‘Niemand weiß, wie ein Meerrettich blüht’.

(Ab-)wertende Funktion haben die rhetorischen Fragen in den folgenden beiden Belegen:

 

 

Wie aber soll sich ein Leser von einem Roman anrühren lassen, wenn er spürt, daß nicht einmal die Autorin durch das behandelte Thema aus ihrem Schreibtrott wachgerüttelt wurde? (FAZ 22.10.87, MIEHE über WOHMANN)

 

 

Eigentlich sagt das Beispiel aus: ‘Der Roman kann keinen Leser anrühren’.

 

 

Aber sind damals [=in früheren Büchern] wirklich Fragen offengeblieben? Oder die Personen der Handlung uns so ans Herz gewachsen, daß wir vom Fortgang aller Dinge regelmäßig unterrichtet werden müßten? (FAZ 17.9.88, GÖRTZ über WALSER)

 

 

Durch das Adjektiv wirklich in der syntaktischen Funktion einer modalen Angabe wird die Bedeutung klar: ‘Damals sind keine Fragen offengeblieben’. Der Konjunktiv II des Modalverbs müssen unterstreicht den irrealen Charakter des Inhalts des Fragesatzes und stützt damit folgenden Sinn der Frage: ‘Wir müßten nicht vom Fortgang aller Dinge unterrichtet werden’ mit der Schlußfolgerung ‘Das Buch ist überflüssig’.

Auch wenn der Leser durch rhetorische Fragen nicht wirklich zu einer Antwort herausgefordert wird, dienen sie dennoch dazu, dem Rezipienten einen Denkanstoß zu geben, ihn zu interessieren und zu mobilisieren (vgl. JOKUBEIT 1980, 134).

Auf eine weitere sprachliche Eigenart der Rezensionen verweist DALLMANN (1979, 84), nämlich auf die „Verwendung von Klischees oder Fertigstücken“, wie z.B. die „lokalen ‘da-Sätze’, bei denen das am Anfang stehende da auch eine textverflechtende Funktion ausübt. Gleichzeitig vermittelt es den Eindruck des Umganssprachlich-Ungezwungenen“:

 

 

Da werden dann Taglilien zu Schwertern [...] Da ist keine Lust zu spielen, zu täuschen, zu erklären [...] (SZ 30.3.88, FRANKE über KIRSCH) [...] da grimassiert dann Wirklichkeit. Da gibt es einen Ton des Aussteiger-Rokoko [...] (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)[25]

 

 

Dies sind ebenso wie die rhetorischen Fragen, originellen Wortbildungen und unüblichen Metaphern Kennzeichen journalistischer Sprache allgemein und nicht nur der Sprache der Buchkritiken; d.h. diese Merkmale sind nicht textsortenkonstitutiv; sie haben aber gerade in der der Literatur angenäherten Sprache der Literaturkritik ihren Platz.

Die von DALLMANN (1979, 89) festgestellte Häufigkeit von Ellipsen oder prädikatlosen Sätzen in publizistischen Kunstrezensionen kann nicht bestätigt werden. Zwar finden sich einige Belege,[26] doch in ihrer Zahl sind sie begrenzt.

Welche Forderung ist an die Sprache der Literaturkritik zu stellen? Gegen das Phänomen des „Schmock“, des Jargon in den Buchrezensionen ebenso wie im gesamten Kulturbetrieb stellt HELBLING (1980, 143) das Postulat auf, daß der Kulturjournalist nicht

 

 

auf den Flügeln einer Fachsprache über den Kopf des (gebildeten) Laien hinwegredet. [...] Ein Insider-Jargon ist besonders fehl am Platz in einem Bereich, wo jeder ein Fachmann und - schon in angrenzenden Gebieten - zugleich ein Laie und daher doppelt auf klärenden Austausch angewiesen ist.

 

 

HELBLING (1980, 143) gibt daher folgende Normempfehlung: „Das Feuilleton sollte mit einem Minimum an spezieller Terminologie ein Maximum an spezieller Information vermitteln.“ Diese Forderung wirft den Kritikern implizit vor, sie berücksichtigten nicht die spezifische Kommunikationssituation der Literaturkritik.

 

 

2.4) KOMMUNIKATIONSSITUATION

 

2.4.1) Allgemein

 

 

Texte sind [...] soziokommunikativ funktionierende, geäußerte Sprachzeichenmengen, also Texte-in-Funktion im Einbettungsrahmen kommunikativer Handlungsspiele. Als solche sind sie stets sprachlich und sozial bestimmt und definierbar, also keine rein sprachlichen Strukturen, die ausschließlich linguistisch definierbar wären. (SCHMIDT 1973, 145)

 

 

Es gibt keine Texte außerhalb von Kommunikationssituationen; „situative Faktoren beeinflussen wesentlich die Ausprägung der Textstruktur“ (BRINKER 21988, 126), daher ist es notwendig, auch textexterne Phänomene zu untersuchen und Kritiken im Rahmen ihrer gesamten Kommunikationssituation zu betrachten.

Wichtige Faktoren der Kommunikation sind Textproduzent(en), Textrezipient(en) und deren Bezug zueinander, Zeit und Ort von Textproduktion/Textrezeption und Medium bzw. Kanal.

BRINKER (21988, 127) differenziert zwischen fünf Medien (Face-to-face-Kommunikation, Telefon, Rundfunk, Fernsehen und Schrift), die jeweils auch den kommunikativen Kontakt unter den Kommunikationspartnern bestimmen. Hinsichtlich der - für Rezensionen relevanten - Kommunikationsform ‘Zeitungsartikel/Buch’ stellt er folgende Merkmale fest (21988, 127):

„KR [=Kommunikationsrichtung]: monologisch - KO [=Kontakt]: zeitlich und räumlich getrennt - S [=Sprache]: geschrieben“. Bezüglich der „Art des Rollenverhältnisses zwischen den Kommunikationspartnern“ unterscheidet BRINKER (21988, 128) zwischen „privatem, offiziellem und öffentlichem Handlungsbereich“, wobei er „den Terminus ‘öffentlich’ vor allem auf die Medien der Massenkommunikation wie Presse, Funk und Fernsehen“ (BRINKER 21988, 129) und damit auch auf die Rezension in Zeitungen bezieht.

Die journalistische Literaturrezension ist, da sie in einer Zeitung veröffentlicht wird, ein Element des Massenkommunikationsprozesses, den KUNCZIK (1977, 22f.) anhand von neun Aspekten beschreibt: Es werden

1)     Inhalte, die im überwiegenden Maße für den kurzfristigen Verbrauch bestimmt sind (z.B. Nachrichten, Unterhaltung)

2)     in formalen Organisationen vermittels hochentwickelter Technologien herge-stellt und

3)     mit Hilfe verschiedener Techniken (Medien)

4)     zumindest potentiell gleichzeitig an eine Vielzahl von Menschen (disperses Publikum), die für den Kommunikator anonym sind,

5)     öffentlich, d.h. ohne Zugangsbegrenzung, in

6)     einseitiger (Kommunikator und Rezipient können die Positionen nicht tauschen, die Beziehungen zwischen ihnen sind asymmetrisch zugunsten des Kommuni-kators) und

7)     indirekter Weise (ohne direkte Rückkoppelung)

8)     mit einer gewissen Periodizität der Erzeugung

9)     kontinuierlich angeboten.

 

 

Wichtig für die Literaturkritik ist die Tatsache, daß die Kommunikation einseitig und indirekt ist, d.h. daß sie keine „intersubjektive, öffentliche Verständigung über die Bedeutung der Literatur“ (MECKLENBURG 1977, 36) sein kann, sondern daß der Kritiker eine stärkere Kommunikationsposition einnimmt als der Leser: Er hat mehr Erfahrung im Umgang mit Literatur, mehr Vorwissen und kann seine Ansichten und Bewertungen in großem Rahmen publizieren. Der Leser hingegen hat nur die - selten genutzte - Möglichkeit des Leserbriefes.

Außerdem hat ein Kritiker, der zugleich die Position des (Chef-)Redakteurs einnimmt, die Möglichkeit, angesichts der Flut von Neuerscheinungen den einlaufenden Stoff zu filtern und als „gate keeper“ (KUNCZIK 1977, 79) die Bücher für die Besprechung auszuwählen und sie damit der Öffentlichkeit bekannt zu machen, egal ob als Lob oder Verriß, denn auch VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 99) stellen fest, „daß weniger die Ausrichtung einer Rezension von Interesse für den Literaturbetrieb ist als vielmehr die Tatsache, daß ein Buch besprochen wird.“[27] Dabei ist das Kriterium für die Auswahl der rezensierten Bücher nicht unbedingt deren Qualität, sondern deren Auffälligkeit oder das Engagement eines Verlages.

Die wichtige Filterfunktion des Kritikers kann sich bis zur gezielten Förderung bestimmter Schriftsteller entwickeln, wie es Marcel Reich-Ranicki und seine Kritiker-Kollegen der FAZ im Falle Hermann Burgers und Ulla Hahns bewiesen haben.[28]

Meinungsbildende Funktion und Filterfunktion des Kritikers verdienen besondere Beachtung, weil aufgrund der Publikation von Medienaussagen der Einfluß des Kritikers auch mit Blick auf den Buchmarkt nicht zu unterschätzen ist. Man geht bei der Verbreitung von Medienaussagen von der Hypothese des „two-step-flow“ der Kommunikation aus (BÖCKELMANN 1975, 126-132):

 

 

a) direkter Weg: Aussagen gelangen über die Massenmedien zu Meinungsführern (opinion leaders) verschiedener Schichten

b) indirekter, interpersonaler Weg: Meinungsführer informieren den weniger aktiven Teil der Bevölkerung. Möglichkeit zum Meinungsaustausch zwischen Meinungsführern und Meinungssuchenden (multi-step-flow).

 

 

Die Buchkritik erreicht also im Idealfall mehr Personen als nur die Leser der Kritik und kann durch ihre Einflußmöglichkeit einen Doppelcharakter als Kommunikation und als Ware annehmen. HOHENDAHL (1970/71, 41) bezeichnet daher die Literaturkritik geradezu als „Appendix des Buchmarkts“ mit eigener Warenrhetorik; der Kritiker würde zum „Zirkulations­agenten“ (LANGE 1973, 12).

 

2.4.2) Äußerungen der Kritiker

Angesichts dieser drohenden Entwicklung wirkt der Wunsch des Schriftstellers Martin Walser (1964, 12) wie eine Utopie: Der Kritiker müsse äußerst subjektiv schreiben, um falsche Autorität zu vermeiden. Ideal sei ein Kritiker, der selbst Schriftsteller ist,[29] aber der derzeitige Rezensent sei eher eine Mischung „aus Amtsarzt, Moses, Verkehrspolizist, Weltgeist, Tante Lessing, Onkel Linné, Robert Koch, Mengele, Kaninchen, Schlange, ‘Hausmacher-Intellekt on the rocks’ und kein bißchen Schriftsteller“. (WALSER 1964, 13)

In Marcel Reich-Ranickis Entgegnung (1965) wird die Kritikerrolle aus der Perspektive des Rezensenten beschrieben als „ein bißchen Amtsarzt“, der sich seiner Patienten annimmt, ohne daß sie es wünschen, „ein bißchen Moses“, der die Gesetze selber schafft, nach denen er urteilt. Damit wird klar, aus welch selbstherrlicher Position Reich-Ranicki seine Rezensionen verfaßt, als ein Kritiker, der das, was er tadelt, wie eine Krankheit betrachtet, die er in der Rolle des Arztes kompetenter diagnostizieren kann als der Autor in der untergeordneten Rolle des Patienten. Man verordnet ein Gegenmittel, das der Autor schlucken muß, und fühlt sich in der Diagnose an keine allgemeinen Kriterien gebunden. Wenn es abzuwägen gilt, ob die Kritiken eher für die Zielgruppe der Buchautoren oder die der Feuilletonleser geschrieben werden, stellt Reich-Ranicki interessanterweise die Hilfe für den Leser dem Nutzen für den Autor voran (vgl. KLEIN 1973, 187).

Für Joachim Kaiser (1968, 17) ist die Motivation zum Verfassen einer Kritik der Trieb zur Äußerung eines für wahr erkannten oder gehaltenen Urteils; er leide darunter, „wenn unsinnige Meinungen oder Werke im Schwange sind.“ In der Darstellung, daß es geradezu ein Zwang für ihn sei, sich zu ästhetischen Gegenständen zu äußern, folgt Kaiser Kants Geschmacksbegriff aus der „Kritik der Urteilskraft“: Dort wird das Schöne definiert als „das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“ (1974, 124) und damit müsse derjenige, der dieses Schöne erkennt, glauben, Grund zu haben, „jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“ (KANT 1974, 124) Für Kaiser wie für Kant ist daher mit dem Geschmacksurteil „ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden“. (KANT 1974, 125)

Der Antrieb zur Kritik kommt - wie die Auskünfte der Rezensenten zeigen - vom Kritiker selbst, doch ist dies keine Garantie dafür, daß derjenige auch in der Lage ist, Literatur zu rezensieren. Allgemein ist es schwierig, Kennzeichen für ‘Kenner’ zu finden. Man kann nur - wie HALLER (1975, 73) - vage Minimalbedingungen formulieren, z.B. das Beherrschen gewisser Regeln, die Kenntnis bestimmter Theorien, die Fähigkeit, gut zu beobachten und zu differenzieren und die Rechtfertigung des Urteils. Da aber schon diese Minimalbedingungen offensichtlich kaum erfüllt werden, beklagt RUTSCHKY (1988, 621f.) als größten Mangel der Kritik den fehlenden Professionalismus: Professionalismus müsse nicht nur darin bestehen, Regeln, Theorien, Kriterien zu kennen, sondern auch darin, daß der Kritiker dasselbe Projekt verfolge wie der Autor, aber allzuoft lese man nur Klagen, daß gegenwärtig keine Literatur existiere. So komme es zur Ausbildung eines persönlichen statt eines professionellen Selbstbewußtseins und damit entstehe die Figur eines Literaturpapstes, der selbstherrlich nach selbst erstellten Kriterien urteilt.

Ebensowenig dem Rezensionswesen förderlich wie die Ausbildung persönlicher Autoritäten ist die Produktionsbedingung der Literaturkritik: Freie Mitarbeiter werden pro Zeile bezahlt und sind daher an langen Texten interessiert, für festangestellte Redakteure gibt es kein echtes Leistungsprinzip. Unter welchen Voraussetzungen ein freier Mitarbeiter eine Kritik manchmal schreibt, schildert GREINER (1985, 49f.):

 

 

Der auf Honorarbasis arbeitende freie Mitarbeiter kriegt von der Redaktion ein Buch zugeschickt, mit der Aufforderung, darüber drei Blatt à 2000 Anschläge zu verfassen. Der Mitarbeiter liest das Buch und merkt, daß er damit nichts anfangen kann, es läßt ihn gleichgültig. Im Idealfall schickt er das Buch zurück. Aber erstens könnte die Redaktion darüber ungehalten sein, und zweitens hat er das Buch gelesen, die Hauptarbeit schon geleistet, also kann er ebensogut ein paar Zeilen zu Papier bringen. Das ist der Normalfall, und er ist trostlos.

 

 

Bei Betrachtung der Kommunikationssituation stellt sich weiter auch die Frage, für welche Lesergruppe der Redakteur oder der freie Mitarbeiter eigentlich schreibt. Joachim KAISER (1968, 15) umschreibt seine Zielgruppe wie folgt: Sein Leser sei „kein Uninteressierter oder Dummer, sondern jemand, der sich nicht professionell mit der Kunst-Sache befaßt“, ein Gleichberechtigter, aber nicht gleich Informierter. Die Forderung „kein Dummer“ verweist deutlich auf den Intelligenzgrad und Bildungsstand des gewünschten Lesers. Noch eindeutiger hebt HELBLING (1980, 143) auf die Bildung der Rezipienten ab und spricht vom „Sonderfall Feuilleton“:

 

Der Kulturteil einer Zeitung steht unter anderen Bedingungen als der ‘allgemeine’ oder ‘politische’ Teil. Er kann und muß bei den Lesern, die sich ihm zuwenden, einen bestimmten Bildungsstand voraussetzen. Sollte das ‘undemokratisch’ sein, so müßte das Feuilleton, um weiter existieren zu können, auf das Prädikat ‘demo­kratisch’ verzichten.

 

 

Damit rechtfertigt HELBLING sämtliche oben (Kap. 2.3) genannte fach- und sondersprachliche Tendenzen in Rezensionen - obwohl er den „Insider-Jargon“ (HELBLING 1980, 143) angreift.

Prinzipiell haben alle Leser Zugang zu den Rezensionen, d.h. der potentielle Leserkreis ist sehr groß und äußerst inhomogen. Doch die tatsächliche Lesergruppe wird eingeschränkt durch das generelle Niveau der Zeitungen, in denen die Kritiken erscheinen. Die Zahl der Feuilleton-Leser und der Rezipienten von Rezensionen verringert sich nochmals, da nicht jeder Zeitungskäufer auch kulturinteressiert ist und sich zudem auch durch die „elitäre Insidersprache“ (MECKLENBURG 1977, 35) abschrecken läßt.

Als Beleg für den Abstand zwischen der Rubrik Feuilleton und ihrem potentiellen Leserkreis führt NAUMANN (1988, 12f.) die Tatsache an, daß z.B. das ZEIT-Feuilleton von nur 15% der ZEIT-Leser genutzt werde. Die logische Folgerung daraus ist eine permanente Selbstgefährdung der Kritik durch den hohen Abstraktionsgrad und die ästhetischen Prämissen, die dem Leser zu viel abverlangen.

 

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[1] Der Terminus Textsorte ist der in der Forschung am häufigsten verwendete. Andere Termini wie Textart, Textmuster (SANDIG 1986), Textklasse (GROSSE 1976), Texttyp (GROSSE 1976) benennen entweder das hier als Textsorte Bezeichnete oder hierarchische Stufen einer Texttypologie (vgl. WERLICH 1975, 77). Mit dem Terminus Textsorte sei die unterste Stufe einer solchen Typologie bezeichnet (vgl. WITTMERS 1981, 15f.). D.h., daß sich die unterschiedlichen Ausformungen der Textsorte ‘Rezension’, wie z.B. ‘journalistische Rezension’ und ‘Fachrezension’ oder ‘Theaterrezension’ und ‘Buchrezension’ einem übergeordneten Texttyp ‘Kritik’ zurodnen lassen.

Im Falle der Literaturrezensionen verweist HOHENDAHL (1985, 2) darauf, daß es möglich ist, die Geschichte der Rezension als Geschichte einer Textsorte zu beschreiben, nicht aber die der Literaturkritik. Die literarischen Formen, in denen Literaturkritik sich historisch manifestiert hat, reichen von der Rezension über Glosse, Polemik, Essay, Dialog, Reportage bis hin zur Literaturgeschichte. (Vgl. Teil 1, Kap. 4) Daher läßt sich Literaturkritik historisch nicht als einheitliche Textsorte fassen. Das für die Untersuchung verwendete Textkorpus weist für das Jahr 1988 jedoch keine andere Form der Literaturkritik als die der Rezension auf, so daß für die analysierten Texte die Bezeichnungen  ‘Literaturkritik’ und ‘Rezension’ gleichbedeutend sind.

[2] Wie in der Textlinguistik allgemein lassen sich auch in der Textsortenforschung zwei Ansätze unterscheiden (vgl. BRINKER 21988, 123):

(1) Textsortenabgrenzung und -beschreibung auf der Basis des Sprachsystems, die mit textinternen sprachlichen Kriterien wie pronominaler Satzverknüpfung, Verwendung von Deiktika, Häufigkeit verschiedener Tempora und Satztypen arbeitet, aber auch die Strukturierung des Textes in Teiltexte betrachtet.

(2) Kommunikationsorientierte Arbeiten, die ein Handlungssystem zugrundelegen und sich auf textexterne Kriterien konzentrieren, wie z.B. (vgl. KALLMEYER/MEYER-HERMANN 1980, 256)

·       die Kommunikationsteilnehmer und ihre Anzahl, Art der Beteiligung und Art ihrer Beziehung,

·       den Diskursbereich der Kommunikation (alltäglich, rechtlich, öffentlich, wissenschaftlich, literarisch etc.),

·       den Bereich der Gegenstände und Sachverhalte (Textthema) [Dies weicht etwas von der Konzentration auf Textexternes ab.],

·       die Intentionen der Beteiligten. [Vgl. dazu auch GÜLICH/RAIBLE (1975,154)]

Eine Entscheidung zwischen den zwei Ansätzen ist unnötig, da erst die Verbindung beider eine zufriedenstellende Abgrenzung von Textsorten ermöglicht: Textexterne Merkmale wirken sich in textinternen Merkmalen aus, und nur insofern sind sie auch für eine Textsortendifferenzierung relevant.

 

[3] In der Forschung wird teilweise versucht, eine Einteilung der Textfunktionen vorzunehmen, die für die Analyse sämtlicher Textsorten ausreicht. BRINKER (21988, 125) gelangt gemäß der Sprechaktklassifikation SEARLEs zu fünf Grundfunktionen von Texten und damit zu fünf Textgruppen:

- Informationstexte (Nachricht, Bericht, Sachbuch, Rezension ...)

- Appelltexte (Werbeanzeige, Kommentar, Gesetz, Antrag ...)

- Obligationstexte (Vertrag, Garantieschein, Gelöbnis ...)

- Kontakttexte (Danksagung, Kondolenzschreiben, Ansichtskarte ...)

- Deklarationstexte (Testament, Ernennungsurkunde ...)

Rezensionen verweist er zusammen mit Nachricht, Bericht und Sachbuch in die Textgruppe mit informativer Grundfunktion, Kommentare reiht er unter Appelltexte ein. Beides sind jedoch wertende, meinungsbetonte Textsorten, die einer Textklasse zuzurechnen sind, wie auch BAYER (1982, 19) zeigt. Schon dieses Beispiel beweist, daß BRINKERs Ansatz keine zufriedenstellenden Ergebnisse erbringt: Die Einteilung in fünf Grundfunktionen greift zu kurz, und die Zuordnung erscheint z.T. willkürlich.

BAYER (1982, 19) unterscheidet in einer Übersicht über Bereiche und Textsorten des Bewertens den „Bereich der allgemeinsten weltanschaulich-religiös-moralischen Bewertungen“ (Bibel, Predigten etc.), den „Bereich der juristischen Bewertungen“ (Gesetzestexte, juristische Kommentare etc.), den „Bereich der kulturell-ästhetischen Bewertungen (Literaturkritik, Film-, Konzert-, Theaterkritiken etc.), den „Bereich der [...] politischen Bewertungen“ (Zeitungs- oder Rundfunk- und Fernsehkommentare, politische Bücher etc.), den „Bereich der Bewertung zwischenmenschlichen Sozialverhaltens“ (Äußerungen von Eltern und Erziehern gegenüber Kindern, persönliche Streitigkeiten etc.), den „Bereich der Leistungsbewertung in Schule und Beruf“ (Zeugnisse, Gutachten etc.) und den „Bereich der Bewertung von Waren und Gütern“ (Wirtschaftswerbung, Warentests, Verkaufsgespräche etc.).

[4] Kritik ist hier als Oberbegriff zur Textsorte Rezension zu betrachten (s.o. Teil 1, Kap. 2, HOHENDAHL 1985, 2).

[5] Z.B. SZ 5.10.88, AUFFERMANN über KONEFFKE: Schauplatz dieser metaphorisch zu deutenden Geschichte „Vor der Premiere“ ist eine kleine süddeutsche Stadt. Kenner merken, daß es Heppenheim ist. [...]

[6] Dies meist nicht explizit, sondern nur implizit über positive Wertungen wie lesenswert oder wie in folgendem Beispiel: Wer zu lesen versteht, hat viel Spaß an dieser „Verabredung in Rom“; an ihrem Einfallsreichtum, ihrer amüsanten Konstellation und ihrer ironisch getönten, kompakten Prosa. (SZ 5.10.88, BENDER über HEGEWALD)

[7] GOROCHOV (1974, 49) sieht die Einschätzung als Hauptfunktion der Rezension an - gemäß der lateinischen Wurzel recensio. Weiter fordert er, daß ein Journalist analysieren muß, „inwieweit ein aktuelles und wichtiges Thema verarbeitet wurde“ und „wie es dem Autor gelang, seine Absicht umzusetzen“. Seine ideologische Herkunft aus dem Historischen Materialismus verrät GOROCHOV mit dem Postulat an den Journalisten, er solle berücksichtigen, „welche Qualität das Werk nach politisch-ideologischen Gesichtspunkten besitzt“, denn die Haupteigenschaft der Publizistik bestehe „in der leidenschaftlichen, zielstrebigen Verfechtung der kommunistischen Ideologie“. (GOROCHOV 1974, 49 u. 52) Die ästhetische Widerspiegelungstheorie des Materialismus klingt im folgenden Zitat an:

Dem Autor des Werkes folgend, und mit ihm gemeinsam die Umwelt aufmerksam betrachtend, vergleicht der Rezensent das in dem Werk aufgezeigte Bild mit der Wirklichkeit, weist er darauf hin, wie tief (oder im Gegenteil wie oberflächlich) sie erfaßt wird [...] (GOROCHOV 1974, 49)

Ansatzweise findet sich dieser Gedanke im Kriterium GENAUIGHEIT/KLARHEIT (vgl. Teil 2, Kap. 10).

[8] Er vernachlässigt dabei das Moment des BEWERTENs.

[9] ZILLIG (1980, 1982 b) unterscheidet Sprechakte von Textakten in Analogie zu den Unterschieden gesprochener und geschriebener Sprache. Diese Differenzierung ist für unsere Untersuchung unnötig, da die Bezeichnungen für die einzelnen Sprachhandlungen dieselben bleiben.

[10] Da die begrifflichen Ordnungen immer von Rangordnungen überlagert sind, ist es schwierig, Information und Wertung voneinander zu trennen, besonders, weil es oft genügt, an einer bestimmten Stelle eine Tatsachenfeststellung zu treffen, um den Adressaten zur Anwendung eines Wertmaßstabs zu veranlassen. Daher ist zu berücksichtigen, daß die nachfolgend aufgezählten Inhalte auch wertend verwendet werden können.

[11] Gunter SCHÄBLE: „Vom Himmel durch die Welt zur Helle“; in: DER SPIEGEL 50 (8.12.1980) zu HANDKE: „Die Lehre des Sainte-Victoire“. Christian SCHULTZ-GERSTEIN: „Kranzschleifen für das Leben“; in: DER SPIEGEL 11 (8.3.81) zu HANDKE: „Kindergeschichte“. Ders.: „Der blanke Haß der schönen Seelen; in: DER SPIEGEL 31 (2.8.1982) zu HANDKE: „Über die Dörfer“.

[12] Er nennt für die Rezensionen sprachwissenschaftlicher Werke drei Aspekte der Bewertung: ‘Forschung’, ‘Form’, ‘Wissenschaftlichkeit’.

[13] Vgl. unten die Ergebnisse der empirischen Analyse Teil 2, Kap. 3 - 11.

ZHONG (1995) klassifiziert Sprachhandlungstypen des Bewertens nach illokutiver Kraft (Intention und Bedingung für die Maßstabserfüllung) und nach illokutiver Stellung in sprachlichen Äußerungen: Nach illokutiver Kraft unterscheidet er

(1) bewertende Sprachhandlungstypen im engeren Sinne (LOBEN, RÜHMEN, ANERKENNEN, KRITISIEREN, DISQUALIFIZIEREN, VORWERFEN, KLAGEN, ZWEIFELN) (ZHONG 1995, 44 - 48),

(2) expressive Bewertungshandlungstypen (ERLEICHTERUNG AUSDRÜCKEN, BEDAUERN) (ZHONG 1995, 49f.) und

(3) handlungsbezogene Bewertungshandlungstypen (EMPFEHLEN; WÜNSCHEN, DASS (das Buch gelesen wird); KORRIGIEREN, ENTSCHULDIGEN, ABRATEN, WARNEN).

Außerdem führt er nichtbewertende Sprachhandlungstypen an, die zum BEWERTEN gebraucht werden, und bewertungsstützende Sprachhandlungstypen. (ZHONG 1995, 51-56)

[14] Die einzige Ausnahme bilden Kurzkritiken der ZEIT („In Kürze“) ohne Überschrift;  z.B. Walter KLIER zu Karin SCHOLTEN: Longlife; in: DIE ZEIT 25.3.88.

[15] Dies ist jedoch kein Charakteristikum von Rezensionen, sondern von journalistischen Texten allgemein.

[16] SZ 29.6.88, Wend KÄSSENS: Aus Rollstuhlsicht

[17] Völlig befremdend wirkt folgender Titel: Die Fußsohlen des Oberbeichtvaters (FAZ 15.11.88, Jürgen JACOBS über Friederike MAYRÖCKER: „mein Herz mein Zimmer mein Name“). Deutlich wird „das Bestreben, durch einen kryptischen Titel den Leser neugierig zu machen [...]“ (HELLWIG 1984, 12)

[18] JOKUBEIT (1980, 253) nennt - nach der Häufigkeit ihres Auftretens geordnet - folgende Funktionen der Überschriften in den von ihm untersuchten Rezensionen:

1.     Überschrift der Rezension entspricht dem Titel der Rezensionsvorlage

2.     Überschrift erfaßt das inhaltliche Anliegen der Rezensionsvorlage

3.     Überschrift gibt eine Wertung der Vorlage (Gesamtwertung bzw. Wertung von Teilleistungen)

4.     Überschrift greift ein Detail der Handlung auf

5.     Überschrift ist ein Zitat aus der Textvorlage

6.     Überschrift gibt eine Problemorientierung

7.     keine Überschrift

8.     nicht einzuordnen

[19] SANDIG (1986, 208) spricht von dem stilistischen Strukturtyp der Ähnlichkeitsstruktur, wenn das Thema (hier: Poesie) die Stilstruktur (hier: poetisch/ästhetisch) beeinflußt.

[20] Zit. nach DURZAK (1973, 57)

[21] LÜGER (1983, 88) weist darauf hin, daß der Wortschatz aufgrund der thematischen Gebundenheit teils fachsprachliche Züge aufweist, die zum Nachvollzug der Besprechung Spezialwissen erforderten: z.B. der Hinweis auf Stilmittel (Metapher, Metonymie, Chiffre, Oxymoron etc.) oder der Vergleich mit bestimmten Kunststilen (expressionistisch, impressionistisch etc.).

[22] BUSSMANN (1983, 225) definiert Jargon: „Im weiteren Sinne: durch speziellen gruppen- oder fachspezifischen Wortschatz gekennzeichnete Sprachform, der es an Allgemeinverständlichkeit mangelt.- Im engeren Sinne: sozial bedingte Sondersprache, die durch auffällige Bezeichnungen für alltägliche Dinge, bildliche Ausdrucksweise, emotional gefärbte oder spielerische Verwendung des standardsprachlichen Vokabulars gekennzeichnet ist.“

[23] Den Namen „Schmock“ übernimmt ZIMMER von einer episodischen Figur in Gustav FREYTAGs Lustspiel „Die Journalisten“ (1858).

[24] Weitere sprachliche Merkmale der wertenden Lexik in Rezensionen werden gesondert in Teil 2, Kap. 1 be­handelt.

[25] Bemerkenswerterweise sind beide Beispiele Rezensionen zur selben Autorin.

[26] Kleinigkeiten? Kleinigkeiten. Zugegeben. (Wenngleich auf 109 Seiten in der Häufung störend.) Aber. Aber. [...] (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH) Der elliptische Minimalismus wird von RADDATZ bis zur Unverständlichkeit gepflegt.

[27] VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 99) belegen dies folgendermaßen: „So steigen z. B. die Verkaufszahlen aller in der Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ besprochenen Bücher an, also auch die der verrissenen.“

[28] Zum Fall Ulla Hahn vgl. WITTKOWSKI 1988, 59-65.- Auch in unserem Textkorpus zeigt es sich, daß sich an Ulla Hahn („Unerhörte Nähe. Gedichte“) die Geister scheiden: Einem positiven Gesamturteil Harald Hartungs (FAZ 16.4.88: [...] gelungene Gedichte [...]) stehen ein abwertendes Urteil Andreas Kilbs (ZEIT 25.3.88: Wenn dies zeitgemäße Lyrik ist, müssen wir uns fragen, wie niedrig wir unsere Erwartungen ans Gedicht noch ansetzen wollen.) und ein glatter Verriß Jörg Drews’ (SZ 15.6.88) mit der vernichtenden Überschrift Selbstbewimmerung gegenüber.

[29] Mit dieser Haltung übernimmt Walser Positionen der romantischen Literaturkritik. (S.u. Teil 1, Kap. 4)