8) KRITISCHE KRAFT

 

 

Dieser Bewertungsaspekt ist in der Geschichte der Literaturkritik ein verhältnismäßig „junges“ Kriterium. Er bildet sich besonders im Rahmen ideologiekritischer Wertungsansätze heraus, deren höchste Werte Emanzipation und - daraus abgeleitet - Herrschafts- bzw. Gesellschafts­kritik sind.[1] Diese Ansätze richten sich gegen Literatur als Möglichkeit der Kompensation (wirkungsbezogener Aspekt), da somit eine Veränderung der Verhältnisse nicht in Angriff genommen werde.

Nicht immer ist jedoch an der Literatur selbst abzulesen, ob sie der Kompensation dient oder nicht; es ist immer auch eine Frage der Lesehaltung. Daher beschäftigt sich auch die Rezeptionsästhetik mit dieser Frage: JAUß befürwortet ein „fortschreitendes Verstehen, das notwendig auch Kritik der Tradition und Vergessen einschließt“ (JAUß 1970, 188f.). Aus der Sicht des Rezeptionsästhetikers wird eine neue Wahrnehmung postuliert, die Traditionskritik mit einschließt. Anders favorisiert JAUß die Kritik auch im Werk selbst: Gelungen ist ein Kunstwerk, wenn das Erwartete und Bekannte durchbrochen wird (vgl. auch die Formalisten) und wenn gesellschaftliche Kritik und Erneuerung durch das Werk impliziert werden (vgl. MUKAROVSKÝ, BENJAMIN und ADORNO). Die „Emanzipation des Menschen aus seinen naturhaften, religiösen und sozialen Bindungen“ sei die „gesellschaftsbildende Funktion“ von Literatur (JAUß 1970, 207).

Der (Post-)Strukturalist Roland BARTHES favorisiert ebenfalls als einen hohen Wert literari­scher Werke den Wert der Herrschaftsfreiheit, der Emanzipation von Herrschaft bzw. der Sub­version von Ordnung (BARTHES 1974, 21f., 34f., 48) durch Normbrüche.

Paul DE MAN versucht, Literarizität von Texten am Grad ihrer Rebellion gegen den über­lieferten Kanon zu messen (DE MAN 1983, 153), und erstellt so nur einen neuen Kanon.

Da der Aspekt der KRITIK den Literaturtheoretikern des 20. Jahrhunderts so relevant er­scheint, ist es nicht verwunderlich, daß auch den Rezensenten wichtig ist, wie kritisch, wie angriffslustig ein Autor in seinen Werken schreibt. Es finden sich zu diesem Kriterium fast nur positiv wertende Belege und wenige negativ wertende Belege. Dies bestätigt auch D. E. ZIMMERs (1986, 127 u. 131) Beobachtung der Entwicklung eines durch ADORNOs Werke beeinflußten „neuen kritischen Idioms“ seit den Ereignissen 1968, das allgemein mit dem Prädikat gut Begriffe verbindet wie: Veränderung, Revolution, antiautoritär, Negation, Destruktion, rational, bewußt, Provokation. Auf den Kulturbetrieb übertragen, bedeutet dies eine positive Würdigung des Denkaktes des Entlarvens, des Durchschauens. Der Skandal wird zum Spaß für den Leser (ZIMMER 1986, 121f.), ablesbar daran, daß Äußerungen wie „Das wird Ärger machen“, „schonungslose Anklage und Warnung“ und „unbequem“ als Lob für ein Buch ausgesprochen werden und als implizites Kompliment an den Leser mit dem Inhalt: ‘Für Sie ist dieses Buch natürlich nicht unbequem, aber für all die anderen Dummen und Denk-faulen.’

 

 

8.1) Positiv wertend

 

8.1.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Positiv bezüglich des Ethos des Autors und seiner kritischen Haltung gegenüber den registrierten Verhältnissen werten: schonungslos aufrichtig, schmerzhafte Redlichkeit, Herausforderung, kritisch (zwei Belege), sich mokieren, skeptisch, desillusionierend, entlarvend (zwei Belege), Heftigkeit, Biß, bissig, Frechheit, furchtlos, Furor[2] (zwei Belege), Schärfe, Provokationslust, spitzzüngig, streitbar, Wut[3], wütend, anarchistisch[4], rebellisch, hitzig.

Es [=das Buch] ist schonungslos aufrichtig. (ZEIT 9.9.88, RADDATZ über BOOCK)

[...] er [=der Autor] ist von einer schmerzhaften Redlichkeit, der kein Schweinehund so leicht entkommt. (ZEIT 1.4.88, BIERMANN über FUCHS)

In der Literatur der DDR ist dieses Buch zweifellos eine bemerkenswerte Herausforderung. (SZ 10.9.88, WEISS über BURMEISTER)

Überzeugen kann dieser Text dann, wenn [...] kritisch wache Beobachtung und scheinbar naive Spekulation zusammentreffen. (FAZ 1.7.88, MIEHE über BIANCHI)

[...] und jene spezifische Art von Humor, die sich zu mokieren weiß aus einer ganz uneitlen Ernsthaftigkeit heraus. (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

Er selbst aber hat sich von einem forschen sozialistischen Sprüchemacher zu einem reflektierten, skeptischen und furchtlosen Lyriker entwickelt. (FAZ 26.3.88, SEGEBRECHT über CZECHOWSKI)

[...] dem sie diesen unmittelbaren - oft desillusionierenden Zugriff verdankt. (SZ 5.10.88, STROMBERG über ZELLER)

In eine Bilderfolge [=Comic strip] gebracht, wäre das Geschehen möglicherweise witzig, spannend und könnte sogar stellenweise entlarvend wirken. (FAZ 2.3.88, HEINRICH-JOST über SCHOLTEN)

Spontan, unsentimental und von einer schönen Heftigkeit ist die erste Geschichte „Irrfahrten“. (FAZ 1.7.88, MIEHE über BIANCHI)

Sie [=die Prosa] läßt Kraft und Biß vermissen. (FAZ 4.10.88, KRÜGER über WOLF)

[...] ein solches Stadtporträt aber ist in Michael Buselmeiers [...] Erzählung [...] bissiger und dichter gelun-gen [...]. (ZEIT 9.9.88, HAGE über ZELLER)

[...] entworfen von einem ebenso verwundbaren wie rebellischen Schriftsteller, der die Frechheit und Intel-ligenz mitbringt, die der deutschen Gegenwartsliteratur so oft fehlt. (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

Er selbst aber hat sich von einem forschen sozialistischen Sprüchemacher zu einem reflektierten, skeptischen und furchtlosen Lyriker entwickelt. (FAZ 26.3.88, SEGEBRECHT über CZECHOWSKI)

[...] seine Anklagen büßen bald schon ihren Furor ein. (FAZ 29.3.88, WITTSTOCK über NEUMEISTER)

Wenn es [=das Buch] [...] fragen läßt, ob die zu enthüllenden Trends tatsächlich mit genügender Schärfe und Provokationslust im Mittelpunkt stehen [...] (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

Der entlarvende Blick dieser Autorin und ihre Fähigkeit zur spitzzüngigen Formulierung können also immer noch treffen. (SZ 8./9.10.88, SCHLODDER über WOHMANN)

[...] und es sind [...] besonders wichtige, weil streitbare Texte. (ZEIT 9.12.88, AHRENDS über WOLF)

Nicht das überraschende Bild allerdings oder die spannungsreiche ausgewogene [...] Zeile geben den Gedichten von Ludwig Fels ihre Eindringlichkeit und Kraft, sondern die verzweifelte, Schwächeanfällen zum Trotz ungebrochene Wut, in der Fels seine enttäuschten Hoffnungen weiter seinen immer auswegloseren Erfahrungen konfrontiert. (SZ 5.10.88, VORMWEG über FELS)

Alles in allem ein schön anarchistisches, [...] schön wütendes [...] Buch [...]. (ZEIT 7.10.88, KLIER über KOFLER)[5]

[...] entworfen von einem ebenso verwundbaren wie rebellischen Schriftsteller, der die Frechheit und Intelligenz mitbringt, die der deutschen Gegenwartsliteratur so oft fehlt. (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

Doch spricht er [=der Autor] mit fremden Zungen, immer wieder. Thomas Bernhard ist da zu hören in einer Prosa, die sich zu einer galligen Justizschelte anschickt, aber ohne den hitzigen Spontanausdruck des Originals matt versandet. (ZEIT 14.10.88, KRAMER über ROTH)

 

 

Auf den Rezipienten bezogen, wertet das Verb irritieren positiv bezüglich der kritischen Kraft des Autors.

 

 

Wie gut, wenn ein Autor auch langjährige Leser noch zu irritieren vermag [...] (FAZ 22.10.88, HARTUNG über BECKER)

 

 

Merkwürdigerweise wird neben der Rebellion und Angriffslust der Autoren und ihrer Werke auch das Gegenteil gerühmt - die Nicht-Aggressivität -, wobei das Gemeinte, wie der Beleg zeigt, nebulös bleibt. Die positive Wertung bleibt wiederum durch die Negationspartikel nicht, die als erstes Glied der Zusammensetzung fungiert, erhalten, im Gegensatz zu einer möglichen Verwendung von un- oder miß-.[6]

 

 

Eine gleichermaßen bodenständige und blitzgescheite Nicht-Aggressivität der Sprechweise [...] (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

 

 

 

8.1.2) Metaphern und Vergleiche

Zur positiven Wertung der KRITISCHEN KRAFT werden folgende Bildbereiche verwendet: Geschmacksempfindung (Synästhesie), Eigennamen (Erich Kästner, Lautréamont, Bona­ventura, Céline, Thomas Bernhard) und Sport.

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

- Literatur und Geschmacksempfindung

 

 

Ich stelle mir vor, daß Koflers maulende Mißgunst, bildlich gesprochen, das Ventil eines Papinschen Topfs sei [=Dampfkochtopf], in welchem ein famoses Gemisch aus Galle, Herzblut, Alkohol und Tristitia brodelt. Mir schmeckt diese Suppe [...] (SZ 14.9.88, KRAMBERG über KOFLER)

 

 

Daß es dem Autor um Kritik an bestimmten Zuständen geht, belegen in der Rezension die alliterierenden Wörter maulende Mißgunst und der Anteil von Galle an der Suppe. Der Rezensent weist selbst auf sein Bild hin (bildlich gesprochen), in dem deutlich wird, daß der Schriftsteller „Dampf abläßt“ über etwas, das in ihm brodelt.

 

(2) Eigennamen

Die Schriftsteller, deren Namen für Vergleiche mit rezensierten Autoren bezüglich Kritik oder Desillusionierung angeführt werden, sind alle positiv bewertet. Im Vergleich Ulla Hahns mit Erich Kästner werden beide Schriftsteller positiv bewertet. Die anderen beiden rezensierten Schriftsteller erfahren durch den Vergleich mit Lautréamont, Bonaventura und Céline bzw. Thomas Bernhard eine negative Bewertung.

 

 

An Kästners neusachliche Desillusionierung [gemeint ist die „Sachliche Romanze“] erinnert Ulla Hahn durchaus [...] (FAZ 16.4.88, HARTUNG über HAHN)

 

Zwei Gallonen Whisky, so begeisternd sie sind, wiegen jene Energien des Allverneinens nicht auf, deren Quellen und deren Einsatz Werner Kofler am Schreibtisch von Lautréamonts Maldoror würde lernen und mit Hilfe seines Ahnherrn, des Nachtwachen-Bonaventura, vielleicht sich würde aneignen können. [...] [Zitat] Schmeckt wie verdünnter Céline, ist aber Kofler. [...] (SZ 14.9.88, KRAMBERG über KOFLER)

 

 

Kramberg vergleicht Koflers Werk mit drei Extremen der Literaturgeschichte, so daß der beurteilte Autor kaum eine Chance hat, an sie heranzureichen. Im ersten Vergleich werden Les Chants de Maldoror (um 1868/69 entstanden) herangezogen, ein Prosagedicht in sechs Ge­sängen von Comte de Lautréamont (d.i. Isidore Lucien Ducasse, *1846 Montevideo/Uruguay, gest. 1870 Paris), der in seinem Brief zu seinem Werk als Ziel benennt, den Menschen und dessen Schöpfer mit allen Mitteln anzugreifen.

 

 

Dieser radikale Antrieb bewirkte die infernalische Grausamkeit der Bilderwelt dieser Gesänge. [...] sein Haß auf den Menschen, diesen „sublimen Affen“, entlädt sich in einer Flut von archaischen, quälend-präzisen Bildern, deren Aggressivität alle literarischen Konventionen des 19. Jh.s sprengt. (KINDLER Bd. 10 1996, 53f.)

 

 

Mit dem Nachtwachen-Bonaventura ist der 1804 anonym erschienene Roman Nachtwachen von Bonaventura gemeint, der mit seiner schon auf spätere Epochen verweisenden nihilistischen Grundeinstellung die Nachtseite der Romantik vertritt. In seinem Protagonisten Kreuzgang, der als Nachtwächter aggressiv-satirische Betrachtungen über die Welt und die Menschen anstellt, zeigt sich in gesteigerter Form die Zerrissenheit des angreifbaren Menschen, wie sie sich bei E.T.A. Hoffmann schon ankündigt. Der Schluß des Romans beweist durch sein dreifaches „Nichts“ die rettungslose Verlorenheit des Individuums:

 

 

‘Ich streue diese Handvoll väterlichen Staub in die Lüfte und es bleibt - Nichts! Drüben auf dem Grabe steht noch der Geisterseher und umarmt Nichts! Und der Widerhall im Gebeinhause ruft zum letzten Male - Nichts!’[7]

 

 

Im dritten Vergleich greift Kramberg auf Louis-Ferdinand Céline (1894-1961 Frankreich) zurück, bekannt durch sein judenfeindliches Pamphlet Bagatelles pour un Massacre (1937), in dessen Romanen voller Aggression und Zivilisationskritik „die Bekundung eines sarkastischen Zweifelns und einer tiefen Verzweiflung an der Welt und den Menschen“ (KINDLER Bd. 3 1996, 788) im Zentrum steht. Daß Kofler nicht an Céline heranreichen kann, zeigt sich im Attribut verdünnt zu Céline.

 

 

Doch spricht er [=der Autor] mit fremden Zungen, immer wieder. Thomas Bernhard ist da zu hören in einer Prosa, die sich zu einer galligen Justizschelte anschickt, aber ohne den hitzigen Spontanausdruck des Originals matt versandet. (ZEIT 14.10.88, CRAMER über ROTH)

 

 

Für Thomas Bernhard (1931 Niederlande - 1989 Österreich) typisch ist eine „Philippika gegen den österreichischen Staat und dessen gesellschaftliches Klima, gegen Tradition und Kultur [...] Die Macht der Gewohnheit variiert die Einstellung Bernhards gegenüber der Sinnlosigkeit der Kunst wie des Lebens [....]“. (KINDLER Bd. 2 1996, 590, 593) Dies zeigt die charak-teristische Seite Thomas Bernhards vor allem in den achtziger Jahren, der in Schimpfreden und Klagen die österreichischen und deutschen Zustände anprangerte. Im zitierten Beleg wird der gewählte Vergleichsautor Bernhard wiederum als dem rezensierten Autor weit überlegen dar-gestellt.

 

 

 

 

(3) Sport

Positiv bewertet im Bereich ‘Sport’ bzw. ‘Kampf’ wird eher behutsames, aber wirkungsvolles Vorgehen bezüglich der Vorhabens der Kritik. Nasenstüber werden gelobt, ebenso Sticheleien statt Keulen großer Sentenzen.

 

 

[...] als herrliche Nasenstüber [wirken] sie [=die Gedichte] sowieso. (SZ 29.5.88, DREWS über ALLEMANN)

Und er [=der Autor] hat gegen sie [=die Verwüstungen der Welt] nie mit den Keulen großer Sentenzen gekämpft, sondern lieber mit stichelnden Beiwörtern und Nebensätzen. (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

 

 

 

 

8.2) Negativ wertend

 

8.2.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Nur drei Beispiele in zwei Belegen weisen Ausdrücke auf, die bezüglich der KRITISCHEN KRAFT des Autors negativ werten: maßvoll bzw. freundlich in der Gesinnung und matt.

 

 

Näher betrachtet, ist das meiste bei Berger nicht nur maßvoll und freundlich in der Gesinnung, sondern auch langweilig. (FAZ 4.11.88, HARTUNG über BERGER)

Doch spricht er [=der Autor] mit fremden Zungen, immer wieder. Thomas Bernhard ist da zu hören in einer Prosa, die sich zu einer galligen Justizschelte anschickt, aber ohne den hitzigen Spontanausdruck des Originals matt versandet. (ZEIT 14.10.88, KRAMER über ROTH)

 

 

8.2.2) Metaphern und Vergleiche

Für die negative Wertung werden nur die Bildbereiche Geschmacksempfindung (Synästhesie) und Sport benutzt.

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

- Literatur und Geschmacksempfindung

 

 

In den Gebräuchen des ästhetischen Nihilismus ein braves Eintopfgericht. (SZ 14.9.88, KRAMBERG über KOFLER)

 

 

Die Anklage und Desillusionierung, wie sie in den Nachtwachen des Bonaventura o.ä. (s.o.) anzutreffen ist, wird - der Kritik nach - nicht erreicht; das Eintopfgericht, das außerdem noch brav genannt wird, verrät biederen Durchschnitt, der die Geschmacksnerven nicht reizt.

 

(2) Sport

Im Bereich Sport bzw. Kampf wird (s.o.) das behutsame, doch wirkungsvolle Vorgehen des kritischen Autors gelobt. Im Gegensatz dazu tadelt der Rezensent einen unechten, nicht ernstgemeinten Kampf mit den Worten Spiegelfechter bzw. Schattenboxen, oder es wird das zu plumpe, intensive Vorgehen gerügt mit dem Wort Wurfkeule bzw. Keule.

 

 

Doch die Anstrengung, dem Unrat der Wirklichkeit mit Worten den Garaus zu machen, läßt das Von-der-Stange-Geplauder journalistischer Spiegelfechter nicht zu. (SZ 14.9.88, KRAMBERG über KOFLER)

Im neuen Band „Die Summe“ aber ist die Satire nur noch Schattenboxen. (FAZ 17.5.88, HINCK über KANT)

 

Und satirische Schreibart lebt nicht mehr im Zeitalter der Wurfkeule. (FAZ 17.5.88, HINCK über KANT)

Und er [=der Autor] hat gegen sie [=die Verwüstungen der Welt] nie mit den Keulen großer Sentenzen gekämpft, sondern lieber mit stichelnden Beiwörtern und Nebensätzen. (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

 

 

 

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Nächstes Kapitel: Teil 2 - 9) Gefühl

 



[1] Vgl. Martin WALSERs Negativwertung der Goetheschen „Lehrjahre“, die gegenüber dem fast gleichzeitig erschienenen „Hesperus“ Jean Pauls als großbürgerlich-fürstendienerisch eingeschätzt werden (vgl. BAHR 1982, 370f.). Die Parteinahme Goethes für die Seite der Herrschenden und damit die mangelnde Kritik an den Verhältnissen entwertet nach WALSER alle ästhetischen Qualitäten des Romans, wie z.B. seine Modernität und Schönheit. Die Turmgesellschaft zeige zwar Wirklichkeitsnähe, doch habe Goethe den „Besitz der Produktionsmittel“, die reale „technologische und ökonomische“ Macht der Mitglieder der Turmgesellschaft durch Erhebung in den Adelsstand noch weiter überhöht (vgl. BAHR 1982, 374). Walser orientiert sich am Klassenkampf-Modell aus der Gesellschaftstheorie des Marxismus und kommt so zu einer völligen Ablehnung Goethes und seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“.

[2] DUDEN: „(geh.): wilde Raserei“; im Beleg steht Furor wohl für extreme Aggressivität.

[3] DUDEN: „1. heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o.ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt“

[4] STRAUSS, HASS, HARRAS (1989, 64ff.) verweisen darauf, daß die Begriffe Anarchismus, Anarchist, an-archistisch zunächst wertfrei für eine Ende des 19. Jhs. sich entwickelnde Sozialphilosophie standen, die eine herrschaftsfreie gesellschaftliche Ordnung anstrebte, in der Individuen ohne jegliche staatliche Bindung in vollkommener Freiheit miteinander kooperieren können. Durch die 68er Bewegung und die zunehmenden terroristischen Aktivitäten erfahren diese Begriffe eine negative Bewertung. Anarchismus und Terrorismus werden gleichgesetzt, obwohl die Philosophie des Anarchismus Gewalt völlig ablehnt. STRAUSS, HASS, HARRAS (1989, 67) merken an, daß „die Anarchiebegriffe Anarchismus, Anarchist und anarchistisch auch allgemeiner im Bereich von Kunst und Literatur verwendet [werden], um Personen oder deren Produkte, Eigenschaften und Verhaltensweisen im Sinne des Chaotischen, Ordnungs- und Gesetzlosen oder Romanti-schen zu charakterisieren. Mit dieser Verwendung ist jedoch meist keine ausgesprochen negative Wertung ver-bunden [...].“ Unser Beispiel zeigt, daß Herrschaftsfreiheit in der Poesie ein positiver Wert sein kann, da der Autor das Wagnis dieser Freiheit eingeht und sein Werk nach eigenen Regeln und Vorstellungen konzipiert.

[5] Durch die Parallelisierung mit dem Adjektiv wütend erhält anarchistisch das Bedeutungselement des Aufbe-gehrens, der Rebellion; daher ist der Beleg eher dem Kriterium KRITISCHE KRAFT als dem der ORIGINA-LITÄT/INNOVATION zuzuordnen.

[6] Vgl. Teil 2, Kap. 1: Nicht-Stimmiges

[7] Bonaventura: Nachtwachen. Hg. v. Wolfgang Paulsen. Stuttgart 1974, 143