@phdthesis{Fellermeyer2004, author = {Fellermeyer, Anika}, title = {Der Arzt Hans Lungwitz (1881 - 1967) im Spiegel seiner sozialreformerischen Schriften}, url = {http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:20-opus-12968}, school = {Universit{\"a}t W{\"u}rzburg}, year = {2004}, abstract = {Der nahezu vergessene Beitrag von Hans Lungwitz (1881-1967) zur Reform des Gesundheitswesens kann - retrospektiv betrachtet - als {\"a}ußerst bemerkenswert gelten. Schon die Art der Pr{\"a}sentation seiner sozialreformerischen Gedanken l{\"a}ßt aufhorchen: So {\"a}ußert er sich nicht nur in Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema, sondern nutzt auch sozialkritische Arztromane als „Medium" zur Sensibilisierung der {\"O}ffentlichkeit. Um seinen Ideen weitere Pr{\"a}senz zu verschaffen, gibt er eine Denkschrift mit dem Titel ‚Die Verstaatlichung des Heil- und F{\"u}rsorgewesens' heraus. Lungwitz behandelt in seinem sozialreformerischen Werk ein breites Themenfeld. Er beanstandet in seinen Schriften die Institution Ehrengericht, die einen {\"u}bertriebenen bzw. falschen Ehrbegriff geschaffen habe, die {\"A}rztekammern und deren Wahlmodus, aber auch andere Standesvertretungen wie beispielsweise den ‚Leipziger Wirtschaftlichen Verband' und dessen Art der Interessenpolitik. Ferner beanstandet er die schlechten Honorarverh{\"a}ltnisse, bzw. die allgemeine Notlage der {\"A}rzte, insbesondere in bezug auf das Kassenarztwesen. Er kritisiert aber auch die {\"A}rzte selbst, indem er die Standesvertreter mehrheitlich als unf{\"a}hig und die Mehrzahl der Mediziner als lethargisch gegen{\"u}ber sozialpolitischen Belangen bezeichnet und ihren vermeintlichen Mangel an Kollegialit{\"a}t sowie ihren „Standesd{\"u}nkel" beklagt. Des weiteren werden die „Kurpfuscherei" und ihre Gefahren, die unzureichenden hygienischen Verh{\"a}ltnisse und Fehler in der Sozialf{\"u}rsorge thematisiert. Auch die {\"a}rztliche Ausbildung und das Verhalten des Staates gegen{\"u}ber den {\"A}rzten werden beleuchtet. Lungwitz verharrt jedoch nicht in bloßer Kritik, sondern unterbreitet {\"u}berdies detaillierte Reformvorschl{\"a}ge. Bei einer Gegen{\"u}berstellung der Lungwitzschen Kritikpunkte am Gesundheitswesen, bzw. der hieraus resultierenden Reformvorschl{\"a}ge, und der zeitgen{\"o}ssischen {\"A}rztepolitik wird deutlich, daß Lungwitz in Teilbereichen mit den allgemeinen Ansichten der organisierten {\"A}rztevertreter {\"u}bereinstimmt, wie z.B. in bezug auf die Bewertung der Honorarverh{\"a}ltnisse und die Geringsch{\"a}tzung kaufm{\"a}nnischer Ideale, die Mißst{\"a}nde im Kassenarztwesen, die „Kurpfuscherei" und die Forderung nach „freier Arztwahl". In anderen Bereichen ist er jedoch v{\"o}llig anderer Ansicht als die zeitgen{\"o}ssische {\"A}rzteschaft: Er fordert die Abschaffung der Ehrengerichte, eine Reform des Kammersystems und des ‚Leipziger Wirtschaftlichen Verbandes', eine der Zeit angepaßte Umgestaltung des Medizinstudiums und eine Modifikation des Krankenkassenwesens. {\"U}berdies gibt es Bereiche, die von der allgemeinen {\"a}rztlichen Standespolitik zwar ebenfalls behandelt werden, denen bei weitem aber nicht der Stellenwert zugedacht wird wie in den Lungwitzschen Arbeiten. Als Beispiel hierf{\"u}r k{\"o}nnen die Mißst{\"a}nde im Krankenkassenwesen oder in der S{\"a}uglingshygiene gelten. Nach und nach reift in Lungwitz eine Idee, wie man diesen zahlreichen Mißst{\"a}nden wirksam entgegentreten k{\"o}nne. Er sieht die L{\"o}sung in einer radikalen Reform des Gesundheitswesens. Lungwitz fordert - obwohl er anfangs diesem Gedanken eher skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegen{\"u}berstand - letztlich die Verstaatlichung des Gesundheitswesens und die Verbeamtung der {\"A}rzte. Das Krankenkassenwesen solle unter staatlicher Organisation in einer Staats- und Reichsversicherung vereinigt werden, finanziert durch eine dem Gehalt angepaßte Gesundheitssteuer. Die {\"A}rzte sollten Beamte der staatlichen Gesundheits{\"a}mter werden, der Eintritt in den Staatsdienst sei ihnen jedoch freizustellen. Bezahlt w{\"u}rden die staatlichen {\"A}rzte mit einem Fixum, bestehend aus einem Grundgehalt, einer Dienstalterszulage und einer Leistungszulage, wobei sie die gleichen Rechte wie alle anderen Staatsbeamten, wie z.B. Anspruch auf eine Rente, erhalten sollten. Um die Betreuung der Kranken effektiver zu gestalten, w{\"u}nscht Lungwitz, daß sich jeder Arzt um nicht mehr als 1.000 Versicherte zu k{\"u}mmern brauche. Ferner schwebt ihm die Einf{\"u}hrung von Diagnoseinstituten und Therapiezentren vor - um nur einen groben Abriß seiner Ideen zu geben. Lungwitz ist indessen nicht der einzige, der sich in der damaligen Zeit zu einer m{\"o}glichen Reform des Gesundheitswesens {\"a}ußert. Auch vor seiner Zeit wird der Gedanke der Verstaatlichung diskutiert, und auch Zeitgenossen von Lungwitz treten mit entsprechenden Ver{\"o}ffentlichungen hervor. Exemplarisch werden dem Lungwitzschen Verstaatlichungsmodell in dieser Arbeit die Vorschl{\"a}ge von Ernst Neumann gegen{\"u}bergestellt. Hierbei wird deutlich, daß es bemerkenswerte {\"U}bereinstimmungen gibt, etwa in bezug auf die von beiden geforderte Verbeamtung der {\"A}rzte und deren Honorierung mit einem Fixum bei zus{\"a}tzlicher Verg{\"u}tung bestimmter Einzelleistungen. Wenn man den Lungwitzschen Beitrag aus heutiger Sicht betrachtet und den Versuch unternimmt, seine Reformvorschl{\"a}ge f{\"u}r das damalige Gesundheitswesen im bestehenden Gesundheitssystem aufzusp{\"u}ren, f{\"a}llt auf, daß nicht wenige der von Lungwitz geforderten Ver{\"a}nderungen realisiert sind: Beispiele sind die Zulassungsbeschr{\"a}nkung zum Medizinstudium, die Ausweitung der wirtschaftlichen Existenzm{\"o}glichkeiten der {\"A}rzte, die Zur{\"u}ckdr{\"a}ngung der Ehrengerichte und die Erweiterung des Krankenkassenwesens. Andererseits sind viele der von Lungwitz ge{\"a}ußerten Kritikpunkte am Gesundheitswesen auch heute noch virulent, wie die {\"a}rztliche Honorarfrage, die extensive Behandlung im Kassenarztwesen durch einen zu hohen Patientendurchlauf in den Praxen, die Arbeit der {\"a}rztlichen Standesvertreter, die sogenannte „Cliquenwirtschaft", der Mangel an Kollegialit{\"a}t unter den {\"A}rzten und die praxisferne Ausbildung der Medizinstudenten. Die Suche nach einem Gesundheitssystem im europ{\"a}ischen Ausland, das eine weitgehende {\"U}bereinstimmung mit dem Lungwitzschen Modell aufweist, f{\"u}hrt zum ‚National Health Service' in Großbritannien - ein System, das bei allen Nachteilen zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht als effizienter und {\`a} la longue besser finanzierbar gelten kann als das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Sozialversicherungssystem. Obwohl die einschl{\"a}gigen Lungwitzschen Ver{\"o}ffentlichungen {\"u}beraus positiv rezensiert wurden, erfuhr Lungwitz' sozialreformerisches Werk von seinen Zeitgenossen nicht die erhoffte Beachtung. In der Retrospektive jedoch beweist Lungwitz mit Teilen seines sozialreformerischen Modells - bei allen Unzul{\"a}nglichkeiten im Detail - einen bemerkenswerten Weitblick.}, language = {de} }