3) DIE philosophische Diskussion UM DAS PROBLEM DES BEWERTENS

 

 

Vor einer Darlegung der heutigen Verwendung der Begriffe werten, bewerten, Wert anhand der Wörterbucheinträge des DUDEN und des WDG soll ein Einblick gegeben werden in die Diskussion über Bewertungsprobleme in Wissenschaftstheorie und Wertphilosophie.

Die Diskussion findet ihren Ausgangspunkt in der Erkenntnis, daß ein Unterschied besteht zwischen Sätzen, wie z.B.:

(1) Thomas Mann schrieb den Roman „Der Zauberberg“.

(2) Einstein fand die Formel E = mc2 .

(3) Am 3. November des Jahres 1472 war der Himmel über Neapel wolkenlos.

(4) Jeder Mensch sollte sich für Literatur interessieren. (Vgl. BAYER 1982, 16)

Der Unterschied der Aussagen der einzelnen Sätze macht die Differenz zwischen dem Sein und dem Sollen deutlich:

Die Sätze (1) und (2) beziehen sich auf empirische Tatsachen und sind nachprüfbar. Satz (3) bezieht sich auf empirische Tatsachen und ist nicht nachprüfbar. Die Sätze (1) bis (3) sind wahr oder falsch und werden bezüglich des „Seins“ ausgesprochen.

Satz (4) drückt ein „Sollen“ aus, bezieht sich auf menschliche Setzungen und kann daher nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger plausibel sein, da er Normen, Bewertungen, Werte berührt. Die Frage ist nun, wie der Unterschied zwischen den vier Sätzen wissenschaftlich beschrieben und erklärt werden kann. Dabei berücksichtigte die Diskussion besonders das Wort gut.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erweist sich die im folgenden kurz umrissene Auseinandersetzung insofern als fruchtbar, als sie einerseits am Beispiel des Wortes gut die theoretische Basis für das Verständnis der allgemein wertenden lexikalischen Wertbegriffe (Teil 2, Kap. 2) liefert und andererseits durch die Erörterung der Frage nach der Ableitbarkeit von Werten aus Tatsachen die Rechtfertigung für das Vorgehen in der Einteilung der kontextuell wertenden Begriffe (Teil 2, Kap. 3-11) bietet.

 

 

 

3.1) Kognitivistische Bedeutungstheorien

 

Allgemein geht man in kognitivistischen Bedeutungstheorien von der These aus, Werturteile werden, wie andere Behauptungssätze auch, dazu verwendet, eine Erkenntnis auszudrücken.

 

3.1.1) Naturalistische Bedeutungstheorien

Auf der sprachtheoretischen Prämisse, die Sprache diene nur dazu, die Welt zu beschreiben, die Adjektive stünden immer für die Eigenschaften der Dinge, gelangte man zu der Auffassung, eine Prädikation mit gut sei nicht nur grammatisch analog einer Prädikation mit rot oder klein:

(1) „Christa Wolfs Buch ist gut.“

(2) „Der Apfel ist rot.“

(3) „Das Auto ist klein.“

Der naturalistischen Bedeutungstheorie zufolge wird einem Referenzobjekt in allen drei Fällen eine Eigenschaft zugesprochen. Auch um die Bedeutung von gut zu erfahren, müsse man nur die empirisch nachprüfbare Eigenschaft untersuchen, die gut bezeichnet.

Besonders HARE (dt. 1972, engl. 1952)[1] brachte verschiedene berechtigte Einwände gegen diese naturalistische Auffassung vor: Er erklärte den Unterschied zwischen gut und Wörtern, die einfache Eigenschaften bezeichnen, mit Hilfe der Bedeutungstheorie Wittgensteins, der das Erlernen der Bedeutung eines Zeichens gleichsetzt mit dem Erlernen bestimmter Regeln, wie man die Zeichen auf bestimmte Dinge anwendet. (HARE dt. 1972, 6) Als Ausländer kann man die Bedeutung von rot und klein durch die Verbindung von Zeichen und Sinneseindruck lernen, die Bedeutung von gut hingegen nicht.

(1) „Das Buch ist gut.“

(2) „Der Apfel ist gut.“

(3) „Das Auto ist gut.“

Eine gut-Prädikation hängt von den je verschiedenen Eigenschaften der Referenzobjekte ab, ebenfalls von den Anforderungen, die der Sprecher an das Referenzobjekt stellt, z.B. daß ein Buch spannend, ein Apfel süß oder ein Auto schnell ist. Damit eine gut-Prädikation ausgesprochen werden kann, muß das Referenzobjekt eine empirische Eigenschaft aus der Klasse der für das Objekt möglichen empirischen Eigenschaften zuerkannt bekommen, wobei das ‘Gut-Sein’ selbst nicht zu der Klasse dieser empirischen Eigenschaften gehört. Daher bezeichnet HARE (dt. 1972, 110) gut als ein „Folge-Attribut“.

Gut und schön bezeichnen keine unabhängige Eigenschaft, aber man nahm an,

 

 

daß es eine Gruppe von charakteristischen Eigenschaften gibt, aus denen zusammen das Gutsein eines Dinges folgt [...]. Dies ist der Ursprung der Gruppe von ethischen Theorien, die G.E.Moore ‘naturalistisch’ nannte [...]. (HARE dt. 1972, 112)

 

 

Gut wird somit betrachtet als Zusammenfassung bestimmter empirischer - nach MOORE „natürlicher“ - Eigenschaften; deshalb bezeichnet man diese Bedeutungstheorie als naturalistisch.

Eine Folgerung, die sich aus der These ergibt, daß man gut durch deskriptive Begriffe definieren könne, ist, daß sich Werturteile aus Tatsachenfeststellungen logisch ableiten lassen und damit wahr oder falsch sein können. Werturteile sind nach kognitivistischer bzw. deskriptivistischer Einschätzung echte und wahrheitsfähige Behauptungen, die Erkenntnisse über die Welt vermitteln. Daraus entsteht das Bemühen im Rahmen naturalistischer Bedeu-tungstheorien, den Gebrauch des Wortes gut durch Rekurrieren auf empirische Eigenschaften zu definieren.

KIENECKER (1989, 34ff.) unterscheidet drei Varianten des Naturalismus, die objektivistische, die subjektivistische und die statistische Variante.

 

3.1.1.1) Die objektivistische Variante

Dem objektivistischen Naturalismus liegt die Annahme zugrunde, daß sich gut durch die natürlichen Eigenschaften der jeweiligen Gegenstandsklasse definieren läßt; Werturteile sind demnach empirische Beschreibungen von Gegenständen.

 

 

Wenn nun der Einstufungsausdruck ‘gut’ in jedem dieser Fälle einfach eine Abkürzung für die Summe der jeweiligen Kriterien wäre (so der Naturalismus), dann hätten wir die absurde Situation, daß ‘gut’ ein Homonym mit so vielen Bedeutungen ist, wie es Situationen gibt, in denen man es anwenden kann. (URMSON dt. 1974, 160)

 

Man müßte somit für jede Gegenstandsklasse die Bedeutung des Wortes gut neu lernen.

Auch unsere Untersuchung zeigt, daß die jeweiligen Kriterien für den Gebrauch des Wortes gut zwar aus dem Kontext zu erschließen sind, doch daß das Wort gut keinen genau abgrenz-baren Bedeutungsbereich z.B. bezüglich des bezeichneten Gegenstandes ´Roman´ hat:

 

 

Der Roman ist in seiner Art gut. (SZ 15.11.88, GRIMMINGER über MÖCHEL)

 

 

Erweitert auf die gesamte Literatur und dann auf andere, außerliterarische Gegenstandsklassen ergibt sich ein unendlich weites Bedeutungsspektrum des Wortes gut und ähnlicher Bewer-tungsausdrücke.

 

3.1.1.2) Die subjektivistische Variante

Der subjektivistische Naturalismus betrachtet Werturteile als empirische Beschreibungen von Subjektzuständen und setzt die Aussage x ist gut gleich mit der Aussage Ich besitze x gegenüber eine positive Einstellung, einer Aussage, die als Beschreibung eines psycho­logischen Zustandes aufgefaßt wird und damit wahr oder falsch sein kann. Für die Literaturkritik erscheint die subjektivistische Variante des Naturalismus zunächst zutreffend, weil wenig Kriterien und Standards anerkannt sind und die Subjektivität des Rezensentenurteils allgemein akzeptiert ist. Dennoch ist die Aussage x ist gut nicht hinreichend definiert durch die Aussage Ich besitze x gegenüber eine positive Einstellung, da sich ein durchaus logischer und verständlicher Satz bilden läßt, der beide Aussagen zueinander in Gegensatz bringt: Der Roman ist gut, doch mir gefällt er nicht. Dabei äußert der Sprecher im ersten Satzteil ein rational begründetes und im zweiten Satzteil ein intuitiv bzw. emotional begründetes Urteil.

 

3.1.1.3) Die statistische Variante

Diese Variante leitet ein Werturteil von der Einstellung der Mehrheit ab: Die Aussage x ist gut entspricht etwa der Aussage x wird allgemein als positiv beurteilt. Die Wahrheit des Werturteils läßt sich durch Fragebögen verifizieren oder falsifizieren. Dennoch ist damit aber keine objektive Gültigkeit des Mehrheitsurteils bewiesen:

 

Es ist eine Tatsache, daß es eine stabile Mehrheit gibt (die Frage, aus welchen Leuten sich diese Mehrheit zusammensetzt, braucht hier nicht entschieden zu werden), die Käse mit den Eigenschaften A, B und C vorzieht, mag oder wählt. A, B und C werden dann zu den Merkmalen, die selbst von der Minorität als Einstufungskriterien für Käse akzeptiert werden. (URMSON dt. 1974, 165f.)

 

 

Einschränkend muß zu URMSONs Beispiel hinzugefügt werden, daß die Minderheit die Wertvorstellungen A, B, C als Wertvorstellungen der Mehrheit zur Kenntnis nehmen, aber nicht unbedingt für sich selbst akzeptieren muß. Noch weniger akzeptabel ist diese Variante für die Literaturkritik.

 

Gemeinsam ist den drei Varianten, daß davon ausgegangen wird, empirisch entscheiden zu können, was als gut zu bezeichnen ist; damit wird in allen naturalistischen Anschauungen die Grenze zwischen Tatsachen und Werten verwischt, bzw. es wird angenommen, daß man von Tatsachen auf Werte schließen kann.[2]

 

G. E. MOORE legt mit seinem sog. „open-question-argument“ dar, daß es nicht möglich ist, gut durch empirische Begriffe zu definieren.[3] Er verweist damit auf den „naturalistischen Fehl-schluß“ und lehnt mit dieser Bezeichnung den Schluß von Tatsachen auf Werte ab.[4] MOORE setzt dem „naturalistischen Fehlschluß“ den Intuitionismus entgegen, der in der ersten Jahr-zehnten des 20. Jahrhunderts sehr verbreitet war.

 

3.1.2) Der Intuitionismus

Statt mit empirischen Begriffen muß die Bedeutung von gut anders dargelegt werden.

Wie der Naturalismus geht der Intuitionismus davon aus, daß die indikativischen Aussagesätze unserer Sprache dazu dienen, die Welt zu beschreiben, und alle Adjektive der Sprache für wahrnehmbare Eigenschaften der Dinge stehen. Das Wort gut steht - nach MOORE - für eine nicht-empirische, einfache Eigenschaft, die nur durch einen besonderen Sinn wahrnehmbar sei, die Intuition, die echte Erkenntnis der Güte vermittle. Da MOORE wie die Naturalisten die These aufrechterhält, Werturteile seien echte Erkenntnisse und könnten daher wahr oder falsch sein, ist auch der Intuitionismus eine kognitivistische Bedeutungstheorie.

Gegen den Intuitionismus lassen sich vielfältige Einwände vorbringen.[5] Zunächst ist gut keine einfache, nicht weiter analysierbare Eigenschaft, sondern ein Folge-Attribut (s.o.), das man nicht durch empirische Eigenschaften definieren kann, das aber mit ihnen zusammenhängt. Die Frage der Begründbarkeit von Werturteilen wird von MOORE nicht näher berührt, da er die Werturteile - genau wie auch der deutsche Vertreter des Intuitionismus, Max SCHELER - durch die Intuition verifiziert sieht.

Der Intuitionismus ermöglicht keine Diskussion kontroverser Werturteile, da ein Kriterium für die Korrektheit von Intuitionen fehlt (s.o.). Der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist die Annahme von Spezialisten, die „richtigere“ Intuitionen als andere haben, eine Position, die manchen „Päpsten“ der Literaturkritik sicher entgegenkommt.[6]

Angreifbar ist ebenso die intuitionistische (und allgemein naturalistische) Prämisse, daß alle indikativischen Aussagesätze Feststellungen mit Wahrheitsanspruch und alle Adjektive Namen für Eigenschaften seien, denn daraus folgern die Vertreter des Intuitionismus, daß gut - nicht definierbar durch empirische Begriffe - eine nicht-empirische Eigenschaft bezeichnen müsse, die auf ein besonderes, intuitiv zugängliches Wertreich verweist.

Die Konsequenz der Kritik ist - auch für unseren Untersuchungsbereich - die Abkehr von kognitivistischen Bedeutungstheorien.

 

 

 

 

 

 

 

 

3.2) Non-kognitivistische Bedeutungstheorien

 

Non-kognitivistische Bedeutungstheorien basieren auf der These, Werturteile äußerten nur Emotionen und Neigungen eines Sprechers und hätten keine Erkenntnisfunktion.

 

3.2.1) Der Emotivismus

Der Emotivismus hat den logischen Positivismus zur Grundlage mit seiner Behauptung, man kenne die Bedeutung eines Satzes erst, wenn man weiß, wie man die Wahrheit des Satzes beweisen kann. Im Anschluß an diese These gibt es zwei Arten von sinnvollen Sätzen: zum einen empirisch verifizierbare Sätze über unsere Erfahrungswirklichkeit und zum andern aus rein logischen Gründen wahre oder falsche Aussagen der Logik oder Mathematik.

Da Werturteile weder empirisch noch intuitionistisch verifizierbar sind, werden sie als sinnlose Sätze ohne eigentliche Bedeutung klassifiziert. Werturteile seien keine (rein) beschreibenden Urteile und können nicht wahr oder falsch sein.

Zur ersten pragmatischen Wende in der Betrachtung sprachlicher Äußerungen führt die Erkenntnis der Vertreter des Emotivismus, daß Werturteile in der Kommunikation eine andere Funktion als die der Beschreibung übernehmen, sei es die, Gefühle auszudrücken - wie AYER annimmt - oder die, Gefühle hervorzurufen - wie STEVENSON meint.

Nach AYER sind Werturteile nicht wahr oder falsch, sondern echt oder gespielt, da sie dazu dienten, positiven oder negativen Gefühlen gegenüber Objekten Ausdruck zu verleihen. Daher gibt es keinen Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Werturteilen, vielmehr sind argumentative Auseinandersetzungen aufgrund unterschiedlicher Werturteile unmöglich.

Falsch ist an dieser Annahme, daß man über konträre Werturteile nicht diskutieren könne, denn Werturteile haben vielleicht keinen Anspruch auf Wahrheit oder Allgemeingültigkeit, aber auf Richtigkeit, weshalb man sie zu begründen versucht (vgl. KIENECKER 1989, 43ff.).

STEVENSONs kausale Bedeutungstheorie[7] erkennt durchaus einen deskriptiven Bedeutungs-anteil im Werturteil an, akzentuiert jedoch stärker die Funktion von Werturteilen, Gefühle und Einstellungen beim Adressaten hervorzurufen; damit erhalten die Werturteile in erster Linie „emotive Bedeutung“:

 

 

Die emotive Bedeutung eines Wortes ist eine aus der Geschichte seines Gebrauchs entstehende Tendenz eines Wortes, affektive Reaktionen in Menschen zu bewirken [...]. Solche Tendenzen haften Wörtern sehr hartnäckig an. (STEVENSON in GREWENDORF/MEGGLE 1974, 127)

 

 

Damit wird deutlich, daß STEVENSON die Bedeutung der Werturteile auf der - nach AUSTIN - perlokutionären Ebene analysieren wollte; eine Bedeutungsanalyse sollte jedoch nicht die möglichen Wirkungen einer Äußerung untersuchen, sondern stärker die Ebene der Propositionen und Illokutionen berücksichtigen. Ebenso muß es möglich sein, rationale Auseinandersetzungen über Werturteile in eine Bedeutungstheorie zu integrieren; dies ist STEVENSON nicht gelungen, da Werturteile und deren Begründungen seiner Auffassung zufolge nur als hörerbezogen effektiv oder ineffektiv zu qualifizieren sind. Diese einseitig adressatenbezogene Auffassung ist auch für die Literaturkritik abzulehnen, zumal das Ergebnis der Betrachtung der Kommunikationssituation (Teil 1, Kap. 2.4) einer solchen Bedeutungsab-grenzung grundsätzlich widerspricht.

Die Überwindung des Gegensatzes der deskriptiven und emotiven Theorien, ein Werturteil sei ein normales Urteil über reale Tatsachen bzw. eine sinnentleerte bloße Interjektion, leisten die pragmatisch orientierten Bedeutungstheorien.

 

3.2.2) Pragmatisch orientierte Bedeutungstheorien

Mit dem „pragmalinguistic turn“ reagierte die analytische Sprachphilosophie auf die unhaltbare sprachtheoretische Prämisse, die Sprache diene nur der Beschreibung der Welt. URMSON (engl. 1950, dt. 1974, 155) deckt den besonderen Sprechakt-Charakter bzw. die pragmatische Funktion von Werturteilen auf und bemerkt bezüglich des indikativischen Aussagemodus von Werturteilen, daß man - wie man am Beispiel aller performativen Sätze erkennen kann - indikativische Sätze nicht nur zur Beschreibung von Objekten verwenden kann. Besonders HARE bemüht sich, die Bedeutung von gut innerhalb einer pragmatisch orientierten Theorie zu erklären.

 

 

3.2.2.1) Der universelle Präskriptivismus HAREs

HAREs Hauptthese ist, Werturteile, Imperative und Sollensprinzipien müßten genauso strengen logischen Kriterien unterworfen werden wie die Deklarativsätze der empirischen Wissenschaften. Daraus wird ersichtlich, daß es für HARE zwei verschiedene Sprachtypen gibt:

·      deskriptive Sprache v.a. in wissenschaftlicher Theoriebildung, wenn man Behauptungen auf­stellt und sie in Form von Indikativsätzen wiedergibt;

·      präskriptive Sprache wie z.B. Imperative und Werturteile, wenn man sich zu Sachverhalten äußert, also zustimmt, ablehnt, jemandem etwas vorschreibt; dabei ist der wertende Wort­schatz nicht irrational-emotiver Herkunft, sondern durchaus von rational nachvollziehbarer Bedeutung.

Sein besonderes Augenmerk richtet HARE auf die „Wertwörter“ gut (HARE dt. 1972, 109-188), richtig und sollte (HARE dt. 1972, 191-243), im ethischen Bereich auf verbrecherisch und schlecht, auf ästhetischem Gebiet ebenso auf schön und gedankenreich. Eine wichtige Feststellung HAREs betrifft auch den empirischen Teil unserer Arbeit: Er konstatiert, daß man Wertwörter nicht auf eine eindeutig definierbare Klasse von Morphemen beschränken kann, daß vielmehr fast alle Wörter einer Sprache als Wertwörter verwendet werden können und daß Wertaussagen an keine bestimmte grammatische Satzform geknüpft sind. (HARE dt. 1972, 109)[8]

HARE geht in seiner logisch-pragmatischen Analyse des Adjektivs gut von der naturalistischen Ansicht aus, gut und schön seien Namen für empirische Eigenschaften oder aus solchen logisch abgeleitet. Er widerspricht dieser Ansicht und zeigt unter Anlehnung an Wittgensteins Theorie, daß ein Ausländer Begriffe wie gut und schön nicht auf gleiche Weise erlernen könne wie z.B. rot.[9] Die Eigenschaft ‘rot’ ist bei verschiedenen Gegenständen immer (fast) dieselbe, die Kriterien für ‘gut’ sind verschieden.

 

 

Wir können die Kriterien für die Anwendung des Wortes ‘gut’ innerhalb einer bestimmten Klasse lehren; doch damit lehrt man nicht die Bedeutung des Wortes. Jemand könnte sogar lernen, gute Holzbohrer von schlechten zu unterscheiden, ohne im geringsten zu wissen, was ‘gut’ bedeutet; [...] er brauchte immer noch nicht einzusehen, daß diese Unterscheidung den Zweck hat, einigen Holzbohrern vor anderen den Vorzug zu geben. (HARE dt. 1972, 136)

 

 

Die empirischen Eigenschaften, die dazu führen, daß ein Referenzobjekt eine gut-Prädikation erfährt, daß einige Holzbohrer also als besonders geeignet ausgewählt werden, müssen für jede Gegenstandsklasse neu gelernt werden[10]: Sie dienen wiederum als Begründung dafür, daß man das Objekt ‘empfehlen’ will, und dies ist die Bedeutung von gut:

 

 

Wertwörter haben eine bestimmte Funktion in der Sprache, nämlich die des Empfehlens; und so können sie einfach nicht mittels anderer Wörter definiert werden, die diese Funktion nicht haben; denn wenn das geschieht, werden wir eines Mittels, diese Funktion zu erfüllen, beraubt. (HARE dt. 1972, 123)

 

 

In allen Gebrauchssituationen ist die wertende Bedeutung von gut konstant: Bei einer Wahlmöglichkeit legt das Werturteil nahe, wofür man sich entscheiden soll, es hat präskriptive Funktion. Das Urteil „x ist gut“ impliziert ‘Wähle X!’. Neben der primär wertenden Bedeutung kommt einem Werturteil jedoch ebenfalls eine beschreibende Bedeutung zu, indem immer auch eine Begründung des Werturteils gefordert ist. Die Begründung ist, wie BAYER (1982) bestätigt, auch ein wesentliches Moment für die Gültigkeit einer Bewertung:

 

 

Begründung und Bewertung sind zwar nicht dasselbe; die Begründung ist aber von der Bewertung auch nicht zu trennen: Sie ist nichts gänzlich Neues, das der Bewertung hinzugefügt würde. Die Begründung ist eher als explizite Ausformu­lierung des Vergleichs anzusehen, der jeder Bewertung zugrunde liegt - wenn auch häufig unreflektiert und unbewußt. (BAYER 1982, 23)

 

 

HAREs These für das „Folge-Attribut“ (s.o.) gut lautet, „daß man die deskriptive Bedeutung von ‘gut’ in einem gegebenen Kontext im Prinzip stets angeben kann.“ (HARE dt. 1974, 267) Diese These schränkt HARE selbst jedoch wieder ein, indem er zugibt, daß der informative Gehalt der beschreibenden Bedeutung nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ je nach Gegenstandsklasse variiert: Die Aussage „Dies ist ein guter Apfel“ bietet mehr und eindeutigere Informationen als die Aussage „Dies ist ein gutes Gedicht“, „denn es gibt keinen allgemein akzeptierten Maßstab für die Güte von Gedichten. [...] Im allgemeinen wird um so mehr Information übermittelt, je fester und verbreiteter der Maßstab ist.“ (HARE dt. 1972, 157)[11] Dies ist der Fall, weil auf genaue Begründungen (s.o.) verzichtet werden kann und man sich auf die Wertvorstellungen der Mehrheit berufen kann (s.o.).

Das Werturteil ist bezüglich bestimmter Gegenstandsklassen und Wertmaßstäbe konsistent:

 

 

Wie wir sehen werden, sind alle Werturteile ihrem Wesen nach versteckt universell, was dasselbe bedeutet wie, daß sie sich auf einen Maßstab beziehen, der sich auf andere ähnliche Fälle anwenden läßt, und daß sie Ausdrücke des Anerkennens dieses Maßstabes sind. (HARE dt. 1972, 164)[12]

 

 

HARE stellt weiter fest, daß wir,

 

 

[...] wenn wir gleiche Vorzüge bei zwei Gegenständen derselben Vergleichsklasse beobachten, ohne daß sie sich in irgendeiner anderen Hinsicht, die wir für die Bewertung relevant halten, unterscheiden, beide gut nennen müsen. (HARE dt. 1972, 164)

 

 

HAREs Konzept stellt mit seiner pragmatischen Ausrichtung einen wichtigen Einschnitt in der Werturteilsdiskussion dar, doch geben besonders zwei Fragen Anlaß zur Weiterentwicklung seines Ansatzes:

·      Ist die pragmatische Funktion von gut gleichzusetzen mit dem Begriff „Empfehlung“?

·      Umfaßt die (deskriptive) Bedeutung von gut die Bestimmung der pragmatischen Funktion von gut?

Gut kann sicher ebenso wie andere allgemein wertenden Ausdrücke weitere pragmatische Funktionen haben wie Loben, Einstufen, Auszeichnen etc.. Gerade die Kommunikations-situation der Literaturkritik zeigt, daß eine Beschränkung auf das EMPFEHLEN unrealistisch ist, denn die Rezensionen werden nicht nur mit der Absicht des Empfehlens eines literarischen Werkes geschrieben, sondern ebenso, um einzustufen, zu informieren usw.. Die Bedeutung des Wortes gut soll - nach SEARLE - unabhängig von den illokutionären Akten in seinem propositionalen Akt bestimmt werden. Diese beiden Kritikpunkte an HAREs Konzept führten zur Weiterentwicklung von HAREs Theorie durch den sprechaktanalytischen Ansatz von AUSTIN und SEARLE.

 

3.2.2.2) Der sprechaktanalytische Ansatz von AUSTIN und SEARLE

Die zwischen kognitivistischen und non-kognitivistischen Theorien vermittelnde Position berücksichtigt, daß Sprecher auf verschiedene Weise urteilen können. Von den pragmatischen Bedingungen ihrer Sprechakte hängt es ab, ob eine bloße Meinungsäußerung oder ein begrün­detes Werturteil ausgesprochen wird. Damit sind unterschiedliche Verbindlichkeiten bezüglich der Fundierung und Rechtfertigung der Bewertung verknüpft. In ihrer theoretischen Position nehmen AUSTIN und SEARLE zum Teil Thesen des universellen Präskriptivismus wieder zurück:

SEARLE (1971, 204f.) zeigt, daß die Kritiker des sog. naturalistischen Fehlschlusses falsch argumentierten: Er verwendet URMSONs Beispiel aus „On Grading“ (1950) und legt dar, daß bei der Qualitätsdefinition von Äpfeln der Satz „Alles, was A, B und C ist, ist Extra Feine Sorte“ eine zulässige Definition ist. Zwar sind die illokutionären Rollen der Sätze (1) „Der Apfel ist Extra Feine Sorte“ und (2) „Der Apfel ist A, B, C“ verschieden - Einstufen steht dem Beschreiben gegenüber -, doch die in (2) ausgedrückte Proposition ist aus der Proposition in (1) ableitbar. Die allgemeine Behauptung, aus beschreibenden Aussagen könnten keine Wert­aussagen abgeleitet werden, ist - nach SEARLE (1971, 279) - falsch. Dies belegen die kontextuell wertenden Lexeme mit Hinweis auf ein Bewertungskriterium (Teil 2, Kap 3-11).

Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sei nicht mit ihrer Verwendung in Äußerungen gleichzusetzen. (HARE hat beides nicht gleichgesetzt.) Gut könne auch in interrogativen, optativen und verneinenden Äußerungen verwendet werden, es könne als Lob, Zustimmung, Anerkennung, aber auch Kritik[13] oder Warnung[14] gebraucht werden.

 

 

Etwas gut nennen bedeutet in der Regel, es loben oder empfehlen usw. Aber es ist ein Fehlschluß, daraus zu folgern, die Erklärung der Bedeutung von „gut“ sei, daß es gebraucht werde, um den Akt des Empfehlens zu vollziehen. (SEARLE 1971, 210)

 

 

Daher soll gut in seiner Bedeutung ohne die pragmatische Funktion des Wortes bestimmt werden, z.B. als „entspricht den Kriterien oder Standards der Bewertung oder Beurteilung“, „genügt bestimmten Interessen“, „erfüllt bestimmte Zwecke“. (SEARLE 1971, 229)

 

 

Die Sprechaktanalytiker haben recht, wenn sie behaupten, wer sage, etwas entspreche den Kriterien oder Standards der Bewertung oder Beurteilung, nehme damit eine bestimmte Art der Bewertung oder Beurteilung vor, nämlich eine Empfehlung. Aber der falsche Schluß, daß folglich die Bedeutung des Wortes „gut“ in Kategorien der Empfehlung erklärbar sei, verhindert die Erkenntnis dessen, was ich hervorzuheben versuchte, nämlich daß „gut“ jedesmal dasselbe bedeutet, gleich­gültig, ob ich Zweifel darüber ausdrücke, daß etwas gut ist, oder frage, ob es gut ist, oder sage, daß es gut ist. Es besteht ein Unterschied zwischen den Fragen, „Was bedeutet es, etwas gut zu nennen?“ und „Was ist die Bedeutung von „gut“? (SEARLE 1971, 229)

 

 

 

Zusammenfassend läßt sich zur Diskussion um die sprachliche Bewertung und die Bedeutung von gut folgendes festhalten:

Die unterschiedlichen Bedeutungstheorien interpretieren den Gehalt der Äußerung „x ist gut“ auf völlig verschiedene Weise:

·      Im Naturalismus wird behauptet: gut hat deskriptiven Gehalt.

·      Der Intuitionismus vertritt den Standpunkt, gut hat nicht nur deskriptiven Gehalt.

·      Nach emotivistischer Anschauung drücken sich im Werturteil Gefühle und Neigungen von Subjekten gegenüber Gegenständen aus.

·      HARE sieht als allgemein pragmatische Funktion von gut die präskriptive Funktion.

·      AUSTIN und SEARLE erweitern die pragmatische Funktion von gut (s.o.), untersuchen jedoch nicht systematisch die Verwendung von gut im Rahmen ihrer Sprechakttheorie. (Vgl. GREWENDORF 1978, 156)

 

Fest steht, daß man die Bedeutung von gut nur adäquat ermitteln kann, wenn man die unterschiedlichsten Äußerungskontexte und Handlungszusammenhänge einbezieht,[15] und daß alle Werturteile eine quasi beschreibende - die verschiedenen Standards betreffend - und eine wertende Komponente aufweisen. Daher kommt als theoretische Basis für den empirischen Teil unserer Arbeit nur der sprechaktanalytische Ansatz von AUSTIN und SEARLE in Frage, der eine Ableitung von Wertaussagen aus allgemeinen Behauptungen zuläßt und einen erwei-terten Verwendungsbereich der Wertwörter erkennt.

 

 

3.3) Das Bewertungskonzept

 

Ausgehend von den Lemmata bewerten/werten und Bewertung/Wertung in DUDEN (21995) und WDG kann erschlossen werden, wie die betreffenden Wörter gebraucht werden und welche Elemente eine Wertung ausmachen. Die Lemmata des DUDEN seien hier zitiert:

 

 

bewerten: dem [Geld]wert, der Qualität, Wichtigkeit nach [ein]schätzen, beurtei­len: das Grundstück wurde mit 80 000 Mark viel zu hoch bewertet; einen Menschen nach seinem Erfolg b.; eine Handlung als Heldentat b.; der Aufsatz wurde [mit der Note] „gut“ bewertet; Von den mehr als 600 verschiedenen Inhaltsstoffen seien viele kritisch zu b. [...]

 

Bewertung: 1. das Bewerten: die B. eines Aufsatzes durch den Lehrer; Natürlich interessiert die gastronomische B. [...], 2. sprachliche Äußerung, durch die etw., jmd. bewertet wird: eine B. schreiben; seine Leistung erhielt unterschiedliche -en

 

werten: jmdm., einer Sache einen bestimmten [ideellen] Wert zuerkennen; (etw.) im Hinblick auf einen Wertmaßstab betrachten: eine Entwicklung kritisch w.; ich werte dies als besonderen Erfolg; Vor Gericht wird ein Fluch immer als Schuldbeweis gewertet [...]; Er möchte ... sein Werk vor einer rational analysierenden, wertenden und fordernden Kritik schützend [...]; (Sport:) der schlechteste Sprung wird nicht gewertet (nicht mitgezählt); die Punktrichter werten (benoten) sehr unterschiedlich

 

Wertung: das Werten, Bewertung: Das ist beileibe keine Wertung, sondern nur eine Feststellung [...]; (Sport:) im Skispringen erreichte er -en (Benotungen) über 16; 6 Fahrer sind noch in der W. (können noch gewertet werden, noch Wertungspunkte erhalten)

 

 

Die Bedeutungserläuterungen der Wörterbücher nennen Verben wie den Wert von etwas bestimmen, etwas veranschlagen, einschätzen, zensieren, einordnen, beurteilen (WDG) oder einschätzen, beurteilen, einen bestimmten Wert zuerkennen, im Hinblick auf einen Wertmaßstab betrachten, als etwas mehr oder weniger Wertvolles ansehen, auffassen, benoten (DUDEN). Durch den Sprechakt des BEWERTENs wird also der Wert verschiedenster Objekte festgestellt, wobei die Gefahr einer fehlerhaften, dem Gegenstand nicht angemessenen Bewertung, d.h. einer zu guten oder zu schlechten Bewertung, anscheinend groß ist. Dies belegen die zahlreichen Beispielsätze, wie z.B.: das Grundstück wurde mit 80000 Mark viel zu hoch bewertet (DUDEN). Die Objekte einer Bewertung sind vielfältig, u.a. Gebrauchs-gegenstände, menschliche Handlungen, auch schulische, sportliche und künstlerische Leistungen, wobei die Bewertung im Bereich sportlicher Leistungen die Zuerkennung bestimmter Punktzahlen durch Wertungsrichter und nicht die Messung von Zeiten, Höhen und Weiten umfaßt; im Bereich der Bewertung künstlerischer Leistungen kann das Verb bewerten die Festlegung des materiellen oder ästhetischen Wertes bedeuten, die Bewertungsaspekte sind somit unterschiedlich. Das Substantiv Bewertung bezeichnet Handlung und Ergebnis des Bewertens. Das Verb werten wird fast nur in Verbindung mit ideellen Werten gebraucht. Wichtig ist die Feststellung des DUDEN unter dem Lemma werten, daß das Werten immer im Hinblick auf einen Maßstab erfolgt.

Damit ist aus den Wörterbucheinträgen zu schließen: BE/WERTEN kann sich auf die unterschiedlichsten Objekte beziehen, es erfolgt unter verschiedenen Aspekten bei Berücksichtigung eines Wertmaßstabs.

Dies belegt auch der „Beschreibungsrahmen für Bewertungsmaßstäbe“, den SANDIG (1979, 139) erstellt und mit TOULMINs (1975) Argumentationsschema[16] in Einklang bringt. (SANDIG 1979, 140f.) Sie nennt als Elemente einer Bewertung eine

 

‘Vergleichbasis’ bestehend aus: ‘Bewertungsgegenstand’ und ‘Vergleichsgegen­stand’, ‘Einstufung’ mittels ‘Bewertungsausdruck’, ‘Perspektive’, ‘Intention’, ‘Bewertungszweck’, ‘Bewertungskriterien’, ‘Bewertungsbezug’

 

 

und verbalisiert dies wie folgt:

 

Einem Gegenstand im weitesten Sinn, der verglichen wird mit einem oder mehreren anderen, wird ein Bewertungsausdruck zugesprochen aus der Perspektive des Bewertenden aufgrund einer bestimmten Intention des Bewertenden zu einem Zweck, den der Bewertungsgegenstand erfüllen soll; der Gegenstand muß (konventionell) bestimmte für den Zweck relevante Eigenschaften haben: Es wird Bezug genommen auf Eigenschaften oder auf Bereiche von Eigenschaften. (SANDIG 1979, 139)

 

 

RIPFEL (1989, 54ff.) beschreibt den Handlungsablauf beim BEWERTEN folgendermaßen:

 

Eine Person (BS) bewertet zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 einen Gegenstand (Bewertungsgegenstand BG), indem BS BG im Hinblick auf bestimmte durch die Vergleichsbasis (V) vorgegebene Aspekte (Bewertungsaspekt BA) anhand diesen zugeordneten Einordnungsskalen (ES) einordnet und die Einordnungsergebnisse (EE) relativ zu in V vorgegebenen Sollergebnissen (SE) verbunden mit einer Gewichtung (G) auszeichnet. (RIPFEL 1989, 54)

 

 

Die Vergleichsbasis wird gleichgesetzt mit den Wertvorstellungen, an denen das bewertende Subjekt (BS) BG mißt, wobei BS diese Wertvorstellungen bewußt oder unbewußt erlernt hat. Der Literaturkritiker kann jedoch nicht auf eine institutionell, sozial oder staatlich vorgegebene Vergleichsbasis zurückgreifen, sondern auf eine subjektive Vergleichsbasis, die sich in ihrer qualitativen Ausformung im Laufe seiner Entwicklung als Leser und Kritiker herausgebildet hat. Die gewählte Vergleichsbasis, z.B. die persönliche Vorstellung von einem ‘guten’ Roman, liefert die Bewertungsaspekte (BA), hinsichtlich dessen der Bewertungsgegenstand - der zu rezensierende Roman - bewertet wird. Da die Rezensenten die Bewertungsaspekte und das Sollergebnis (SE), das die höchste Auszeichnung auf der Skala ihrer Einordnung (ES) verdient, ihren Texten nicht explizit voranstellen, müssen sie aus den in den Rezensionen formulierten Einordnungsergebnissen (EE) erschlossen werden. Dabei erscheint für unsere Untersuchung eine eventuelle Gewichtung (G) der Einordnungsergebnisse bezüglich der verschiedenen Bewertungsaspekte und -kriterien irrelevant, da das Abstrahieren der Kriterien selbst mit dem zugehörigen Wertungswortschatz Ziel der Arbeit ist.

Maßgeblich für unsere Untersuchung ist die differenzierte Beschreibung des Handlungsablaufs beim BEWERTEN, wie sie ZHONG (1995, 33-36) vornimmt: Er fügt dem Handlungsschema des BEWERTENs weitere Elemente hinzu und unterteilt den Prozeß des BEWERTENs in fünf Phasen, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation ablaufen.

 

Phase 1: Mentale Vorbereitung

 

 

Das Bewertungssubjekt (BS), hier der Rezensent, ist mit einem Bewertungs­gegenstand (BG), im vorliegenden Fall einem Roman, konfrontiert. Der Rezensent hat die Intention (Int), den Roman zu bewerten mit dem Bewertungsziel (BZ), dem Leser den Roman zu empfehlen oder ihn [sic] davon abzuraten. Man bewertet einen Roman unterschiedlich, je nach dem Ziel, ob er als Lektüre für Leser gedacht ist oder als ein Weihnachtsgeschenk für Kinder. Dabei geht der Rezensent von einer bestimmten Partnerhypothese (PH) aus. [...] Seine Bewertungsperspektive (BP) kann seine eigene, die des Verlags oder des Lesers sein. [...] All diese Faktoren determinieren das Bild der den Bewertungsgegenstand umfassenden Gegenstands­klasse (BGK) im Kopf des Rezensenten. (ZHONG 1995, 33)

 

 

Phase 2: Selektionsvorgang

 

 

Die Gegenstandsklasse ist eine idealtypische Gruppe gleicher Gegenstände, die sich zum BEWERTEN eines bestimmten Gegenstandes in einen globalen Bewertungs­maßstab (gBM) verwandelt, der seinerseits auch vom Bewertungsgegenstand ab­hängt, denn der Bewertungsmaßstab für die Gattung Roman ist z.B. nicht der gleiche für die Lyrik. [...] Der Bewertungsmaßstab, der u.a. aus Wertkriterien (WK) besteht, selektiert die Elemente des Romans, die beim BEWERTEN als Bewer­tungsaspekte (BA) gelten, unter denen der Roman bewertet wird; der Bewertungs­maßstab bezieht sich notwendigerweise mindestens auf einen Bewertungsaspekt. [...] (ZHONG 1995, 33ff.)

 

 

 

Phase 3: Vergleichsvorgang

 

 

Je nach selektierten Bewertungsaspekten spaltet sich als Ergebnis des Feedbacks der zunächst global geltende Bewertungsmaßstab in lokale Bewertungsmaßstäbe (lBM), die im Bewertungsprozeß abgearbeitet werden. Auf den globalen Maßstab stützt sich das Gesamturteil einer Rezension. Er besteht zugleich aus einzelnen Bewertungen von Inhalt, Darstellung, Aufbau, Sprache/Stil u.a. des Romans, die ihrerseits auf lokalen Maßstäben über diese Aspekte beruhen. [...] Der globale Bewertungsmaßstab wird in Gestalt lokaler Maßstäbe mit einzelnen Aspekten verglichen, eingestuft und gewichtet. Der ganze Bewertungsgegenstand wird hier in seine einzelnen Aspekte dekonstruiert. Daher besteht auch die Möglichkeit, im Bewertungsprozeß einen Vergleichsgegenstand (VG) einzusetzen. [...] Zu beachten ist, daß der Vergleichsgegenstand nicht mit dem globalen Bewertungsmaßstab identisch ist [...].[17] (ZHONG 1995, 35f.)

 

 

Phase 4: Gewichten und Einstufen

 

 

BEWERTEN als Prozeß wird so vollzogen, daß es alle im Hinblick auf ein be­stimmtes Bewertungsziel bewertungsrelevanten Aspekte durchläuft, d.h. daß aus einzelnen Bewertungen von eingestuften und gewichteten Aspekten ein Gesamt­urteil resultiert, oder bereits von einer Bewertung von Aspekt l bzw. Aspekt n zum Gesamturteil übergeht [...]. Wichtig ist die Konstellation von lokalen Maßstäben untereinander. Das Bewertungssubjekt kann den lokalen Maßstab für Inhalt beson­ders hervorheben bzw. mehr Gewicht auf Sprache legen und/oder andere Aspekte ausblenden. (ZHONG 1995, 35)

 

 

Phase 5: Sprachlich ausgedrücktes Handlungsergebnis

 

 

ist ein bewerteter Gegenstand (BG’), also ein Roman mit zugeschriebenen Wert­kriterien als Eigenschaften, indem der Rezensent bewertende sprachliche Mittel (BMi) bzw. Sprachhandlungen verwendet. (ZHONG 1995, 35f.)

 

 

In unserer Untersuchung werden - nach ZHONGs Schema - die Wertkriterien (Phase 3) betrachtet, jedoch ohne Spezifizierung nach Aspekten des Bewertungsgegenstandes, wie z.B. Inhalt, Sprache, Stil, Struktur, Persönlichkeit des Autors, literarischen Einflüssen des Werks und Zeitgeschehen; ebenso werden einige der bewertenden sprachlichen Mittel, die in Phase 5 greifbar sind, analysiert.

Der Umstand, daß dasselbe literarische Werk von verschiedenen Rezensenten unterschiedlich bewertet wird, kann in einem unterschiedlich angesetzten Sollergebnis, in einer voneinander abweichenden Auswahl von Bewertungsaspekten seine Ursache haben, aber auch in einer unterschiedlichen bewertungsaspektinternen[18] (einem Rezensenten erscheint die Handlung eines Romans äußerst spannend, einem anderen eher langweilig) oder bewertungsaspekt­externen[19] Gewichtung (für einen Rezensenten ist bezüglich des Inhalts Unterhaltsamkeit das herausragende Kriterium, für einen anderen ist der Unterhaltungswert eher zweitrangig). Hinzu kommt, daß es keine nachprüfbaren Hinweise auf den Ausprägungsgrad z.B. des Kriteriums ‘Unterhaltung’ in einem literarischen Werk gibt. RIPFEL (1989) unterteilt demnach auch Bewertungen

 

in solche, bei denen die Einordnungsergebnisse bei den Bewertungsaspekten eindeutig ermittelbar sind, in solche, bei denen bereits diese Einordnung nicht eindeutig erfolgen kann, und solche, bei denen die Einordnung bei einigen Bewertungsaspekten eindeutig erfolgen kann und bei einigen nicht. (RIPFEL 1989, 77)

 

 

Die Literaturkritik gehört eindeutig zur zweiten Gruppe, für die RIPFEL (1989, 77) als Beispiel die „Bewertung von Personen im Hinblick auf Temperament, Fröhlichkeit oder Charme“ anführt. Dennoch sind auch alle anderen Arten von Bewertungen, die objektiver erscheinen mögen, nie wirklich objektiv, da die Einzelelemente einer Bewertung (s.o.) immer variieren können und z.B. trotz statistisch abgesicherter Ergebnisse die Gewichtungen uneinheitlich bleiben, so daß das Ergebnis „Lob oder Tadel“ (KRAFT 1971, 49) immer zumindest eine subjektive Komponente aufweist.

Das Ideal einer allgemein verbindlichen Gültigkeit von Bewertungen wird daher nie erreicht werden, die Konsequenz ist hingegen nicht ein Zurückgehen zu einer rein persönlichen, subjektiven Gültigkeit. Zwischen den genannten Extremen

 

[...] gibt es eine Vielzahl von Bewertungen, die eine Gültigkeit innerhalb bestimmter Gruppen haben, wobei hier die Anerkennung einer Bewertung in den meisten Fällen gerade nicht aus dem zahlenmäßig hohen Grad an Zustimmung/ Ablehnung resultiert; vielmehr kommt es darauf an, wer die Bewertungen vornimmt, d.h. ob es Personen sind, die mit dem Bewertungsgegenstand vertraut sind oder nicht, und man ihnen insofern ein gültiges Urteil zutrauen kann oder nicht. [...] Und auch Bewertungen solch kompetenter Bewertungssubjekte übernimmt man gewöhnlich nur, wenn man selbst keine Möglichkeit hat, den Bewertungsgegenstand zu prüfen bzw. wenn einem selbst eben jene Kompetenz fehlt. (RIPFEL 1989, 81f.)

 

 

Damit wird die Bewertung eines Buches umso eher übernommen, je reputierter ein Rezensent ist und je weniger man sich mit dem beurteilten Buch auseinandergesetzt hat.

Ein weiterer Aspekt, der einer Bewertung größere Akzeptanz und Gültigkeit verleihen kann, ist die Begründung der Bewertung (s.o. BAYER 1982, 23), die mit einer Ausformulierung des Vergleichs und einer Erläuterung der Vergleichsbasis gleichzusetzen ist. Ein Verzicht auf Begründungen ist nur dann möglich, wenn die Basis der Wertvorstellungen allgemein bekannt ist.

Es ist zu unterscheiden zwischen Begründungen von intrinsischen und extrinsischen Werten: Da bei intrinsischen Werten der Wert einer Sache in ihr selbst liegt, kann es keine Begründun­gen geben, die auf einen Zweck abzielen. Intuitiv-intrinsische Werte[20] werden begründet mit

 

Pseudobegründungen der Form O ist gut, weil es mir gefällt [...], begründet-intrinsische Werte werden entweder mit Verweis auf andere BEWERTUNGEN begründet (Das Buch ist gut, weil es spannend ist), oder es wird mittels einer deskriptiven AUSSAGE eine Begründung vorgenommen (Das Buch ist gut, weil es von Woody Allen ist). (ZILLIG 1982a, 300)

 

 

Extrinsische Werte können mit einem Satz wie O ist gut, weil es der Erreichung von Z dient begründet werden.

Wenn in Rezensionen begründet wird, überwiegen Belege für begründet-intrinsische Werte.

 

 

3.4) Probleme der literarischen Wertung

 

Generell besteht im Bereich der literarischen Wertung wie bei jeder Wertung das Problem der selektiven Wahrnehmung, daß nämlich die Erwartungen der Kritiker oder die poetologischen Grundsätze, die der Wertende vertritt, die (Text)wahrnehmung bestimmen und eine Selektion des Aufgenommenen bewirken. Der einzige Weg, diese Gefahr zu minimieren, besteht darin, sich die eigenen Werte bewußt zu machen und die Reduktion des aufgenommenen Textes damit reflektiert wieder zu erweitern. In Anlehnung an das in Kap. 3.3 Ausgeführte läßt sich eine konträre Wertung von Literatur unter verschiedenen Kritikern folgendermaßen begründen:

 

Bei der Wertung von Literatur kann es aus vier Gründen zu einem Dissens kommen: Das Wertungsobjekt kann unterschiedlich aufgefaßt werden, die Wertenden können sich auf verschiedene axiologische[21] Werte und abweichende Zuordnungsvoraussetzungen beziehen, und sie können ihre axiologischen Werte unterschiedlich gewichten. Soll ein begründeter Konsens hergestellt werden, müssen sich die Wertenden in einem Metadiskurs versichern, daß sie in diesen vier Punkten übereinstimmen; stimmen sie nicht überein, können sie auf diese Weise ihren Dissens begründen. (VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 110)

 

 

Da die Voraussetzungen unterschiedlicher Wertung häufig in den poetologischen Vor-stellungen liegen, seien verschiedene Muster literaturwissenschaftlicher Theorien nach 1945 und ihre Folgerungen für literarische Wertung zusammenfassend dargestellt: die Wertung auf hermeneutischer Basis (traditionell als phänomenologisch-werkimmanente Werkwertung wie bei KAYSER, SENGLE und MÜLLER-SEIDEL, aber auch als geschichtsphilosophisch-ideologiekritische Wertung wie bei ADORNO oder späteren Vertretern, die synkretistisch vorgehen), Wertungstheorien im Gefolge der „semiotischen Wende“ in Strukturalismus (MUKAROVSKÝ) und Rezeptionsästhetik (JAUß) und im Rahmen des Poststrukturalismus bzw. der Dekonstruktion (Roland BARTHES und Paul DE MAN).[22]

Die literarische Wertung schwankt einerseits zwischen der Auffassung, der Wert der Literatur liege im Werk selbst, in der Qualität des Autors oder der Gattung, und andererseits der An­sicht, der Wert von Literatur sei allein in der Rezeption begründet, in der Funktion von Litera­tur für einzelne Personen, eine Epoche etc.[23]

 

3.4.1) Wertung auf hermeneutischer Basis

Folgende Voraussetzungen liefert die Hermeneutik als wissenschaftliche Methode: Erst auf­grund einer Interpretation, die die bewußte oder unbewußte Intention des Autors mitberück­sichtigt, kann ein Text gewertet werden.

 

 

Der Erkenntnisvorgang vollzieht sich in Form einer Kreisbewegung, die man als hermeneutischen Zirkel bezeichnet. Er stellt sich als ein Hin und Her zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt bzw. zwischen dem „Ganzen“ und dem „Einzelnen“ dar, das zu einem gesteigerten, im Idealfall vollständigen Verständnis und mithin zu einer vollkommenen Überbrückung der hermeneu­tischen Differenz führt. (GUTZEN/OELLERS/PETERSEN 41981, 112)

 

 

Dabei liegt in der traditionellen Hemeneutik der Schwerpunkt auf dem Objekt, in der kritischen Hermeneutik auf dem interpretierenden und wertenden Subjekt, das damit auch über das vom Autor Gemeinte hinausgehen kann.

Wolfgang KAYSER bevorzugt in seinen 1952 erschienenen Aufsätzen „Literarische Wertung und Interpretation“ (KAYSER 1958a) und „Vom Werten der Dichtung“ (KAYSER 1958b) eine phänomenologisch-immanente Wertung der Literatur. Er bewertet nur künstlerisch aner-kannte Werke, die in den Kanon der Welt- oder Nationalliteratur eingegangen sind, meist aus der Epoche des Barock oder der Literatur um 1800. Am Anfang der Beurteilung eines Kunst-werks steht das Wertgefühl des Beurteilenden, der - nach KAYSER - aufgrund einer beson-deren Veranlagung Wertgewißheit besitzt. Dabei leitet das Werk mit seinen Intentionen den Bewertenden, der in die Beschreibung und Wertung zusätzlich sein literarisches Wissen einbringt und sein Gesamturteil an literarisch Gebildete weitergibt. An der Spitze der Werthierarchie steht in der Tradition der Autonomieästhetik der formal-ästhetische Wert des „Schön-Sein[s]“ mit dem Merkmal der Einheit bzw. Ganzheit[24]; dieser Wert bewirke „Ergriffensein von der Erscheinung“[25] (KAYSER 1958a, 56) und dadurch wahre Erkenntnis der Wirklichkeit, die durch kein Interesse geleitet sei. Die historische Funktion des Werkes und die Bedeutung des Werkes für die Gegenwart des Bewertenden sind nach KAYSER (1958b, 61) zu vernachlässigen.

KAYSER stützt sich damit auf seine ahistorisch-phänomenologische Dichtungsauffassung, wie er sie 1948 in seinem Werk „Das sprachliche Kunstwerk“ in Anlehnung an den Husserl-Schüler Roman INGARDEN[26] dargelegt hat. Einerseits möchte KAYSER einen Gegenpol zur positivistisch-geistesgeschichtlichen Betrachtung der Literatur schaffen,[27] andererseits wirkt die Zeit des Nationalsozialismus noch nach, als sich Germanisten, die sich der herrschenden Ideologie nicht anschließen wollten, eher der Form von Dichtung zuwandten.[28]

Weiterhin phänomenologisch, aber nicht mehr verengt auf die Form des Kunstwerks, urteilen Literaturwissenschaftler wie Friedrich Sengle (1955)[29], Hans-Egon Hass (1959)[30], Wilhelm Emrich (1963)[31], Max Wehrli (1965)[32] und Walter Müller-Seidel (1965)[33] auf der Basis der „Theorie der Literatur“ von René Wellek und Austin Warren (amerikan. 1943, dt. 1959). Einbezogen werden Form und Inhalt, die Bedeutung des Kunstwerks für dessen Zeitgenossen (geistesgeschichtlicher Ansatz), für die Gegenwart und den Rezipienten, immer jedoch ausgehend vom Werk selbst.

Kritische Hermeneutik ist damit jedoch noch nicht erreicht. Das Wertungsprinzip der Ideologiekritik[34] wird vertreten von Walter BENJAMIN, Theodor W. ADORNO, Georg LUKÁCS, Herbert MARCUSE u.a.:[35] ADORNO hat keine explizite Wertungstheorie vorgelegt, doch seine Rede „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ (1957)[36] und die Schrift „Der Essay als Form“[37] machen Adornos literarische Wertmaßstäbe deutlich, die in seine „Ästhetische Theorie“[38] einfließen.

Adorno betrachtet das autonome, allgemein anerkannte Kunstwerk bes. der Moderne. Er geht - u.a. in Abwehr der rationalistischen (Natur-)Wissenschaften - hermeneutisch vor, da die „Spontaneität subjektiver Phantasie“ den Bedeutungsgehalt eines Kunstwerks freilegt, der über die Intentionen des Künstlers hinausgeht und in der Form der Darstellung „verkapselt“ ist. (ADORNO 1958b, 12-14) Der Leser soll, ausgehend von seiner eigenen Zeit, kritisch das Kunstwerk betrachten, das die in der Geschichte immer weiter fortschreitende Entfremdung deutlich macht und sich zugleich dem Verfall entgegenstellt. Ganz oben in der Werthierarchie steht daher das Nicht-Affirmative, die Werte der Diskontinuität, des Fragmentarischen, die man bevorzugt in antiklassischen Epochen vorfindet. Das neu definierte Genie schafft nicht mehr gänzlich Neues, sondern kann das Tradierte souverän benutzen, um es in einer neuen „Konstellation“ als „Allegorie“ des alten, zerbrochenen Ganzen zu zeigen. (ADORNO 1958a, 130 u. 124f.)[39]

Verschiedene Traditionen wirken in Adornos ästhetische Theorie hinein: Die von Wilhelm DILTHEY um 1900 begründete subjektiv-hermeneutische Methode der Geisteswissenschaften, die Frühschriften von Karl MARX, in denen die Ästhetik mit den gesellschaftlichen, techni­schen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Beziehung gebracht wird, Walter BENJAMINs Konzept der Kunst als Organon der Wahrheit nach dem Ende der Metaphysik, ebenso wie durch Benjamin vermittelte Elemente jüdischer Theologie, die Geschichte als Geschichte des Unheils mit kurzen Augenblicken der aufscheinenden „Versöhnung“ definiert. (ADORNO 1958a, 129)

Andere ideologiekritische Theoretiker der 70er Jahre, wie z.B. Hans Magnus ENZENS­BERGER in seinem „Kursbuch“, Günther WALRAFF, Autoren der Zeitschrift „Das Argu­ment“ und der Dortmunder „Werkkreis für Literatur der Arbeitswelt“, vermischen im Anschluß an die Studentenrevolte von 1968 die verschiedensten literaturtheoretischen Schriften des Marxismus[40] und sehen sich eher im Gefolge von Georg LUKÁCS.[41] Neben Kunstwerken werden auch Trivial-, Massen- und Gebrauchsliteratur (z.B. Werbung) nach der Methode der kritischen Hermeneutik bewertet, wobei der Inhalt stärker als die Form berücksichtigt wird. Hedonistische Werte der Lektüre werden vernachlässigt; an der Spitze der Werthierarchie steht der handlungsorientierte Wert der Emanzipation, aus dem Herrschafts- und Gesellschaftskritik abgeleitet werden. Damit sind die Werte negativ festgelegt, es fehlen jedoch konstruktive Impulse bzw. positive Werte. Abgelehnt werden Kompensation durch Literatur, wobei dieser Wert nur die Textwirkung betrifft, ebenso Regression (z.B. in vorindustrielle Zustände) und Harmonisierung; folglich werden Texte favorisiert, die Utopien von Herrschaftsfreiheit ermöglichen, die Innovation und Fortschritt propagieren und dem Realismus verbunden sind.[42]

 

3.4.2) Wertung auf semiotischer Basis

Ästhetische Theorien auf semiotischer Basis wurden in Rußland, Frankreich, der Tschecho-slowakei und Amerika in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt, doch in Deutschland erst ab 1966 (Münchner Germanistentag) rezipiert.

Literatur wird wie jedes ästhetische Phänomen als Zeichenkomplex im Rahmen einer Sprache bzw. eines Kontextes gesehen; die Zeichen erhalten erst Bedeutung durch ihre Funktion im System. Dadurch gerät der bewertende Semiotiker, anders als der Hermeneutiker, in eine analysierende Distanz zu seinem Gegenstand und untersucht bevorzugt das Regelhafte in Textkorpora mit Hilfe von Psychologie und Soziologie.

Der Prager Strukturalist Jan MUKAROVSKÝ hat das Wertungsproblem besonders in seiner Schrift „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ von 1935/6[43] untersucht. Er unterscheidet im Bereich des Ästhetischen ästhetische Erscheinungen, die nicht-ästhetische Funktionen nur begleiten (z.B. Essay, didaktische Literatur etc.), und die eigentliche ‘Kunst’, in der die ästhetische Funktion dominiert, wobei beides grundsätzlich gleichwertig ist.

Methodisch geht er von einer Konstitutierung und Semantisierung des Zeichens durch die wahrnehmenden Subjekte - und hierunter versteht er alle Bevölkerungsschichten - aus, die ihm dann einen bestimmten Wert zuschreiben.

 

 

Um einer völligen Subjektivierung der Wertung auszuweichen, unterstellt Mukarovský, daß ein jeweiliges - also historisch-soziologisch je verschiedenes - Kollektivsubjekt nach gemeinsamen ästhetischen (und nicht-ästhetischen) Normen ein wenigstens für dieses Kollektiv identisches ‘ästhetisches Objekt’ erzeugt. (VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 278f.)

 

 

Daher kann es keine allgemeinen Maßstäbe und Wertungsnormen geben.

Die durch ästhetische Funktion dominierten Texte unterscheiden sich von Texten mit nur begleitender ästhetischer Funktion dadurch, daß sie sich nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen müssen und daß alle inhaltlichen und formalen Elemente bedeutungstragend sind.[44] Für sie kann Normbruch ein positiver Wert sein, da der Wert des autonomen Kunstwerks mit der Zahl der in ihm komprimierten außerästhetischen Werte und ihren Spannungen zunimmt; Dynamik aufgrund von Spannungen erscheint wertvoller als statische Harmonie,[45] „weil die unterschiedlichen und widersprüchlichen nicht-ästhetischen Werte, die ein Artefakt zusam­menbindet, im Wandel der Zeiten die Anknüpfung der sich wandelnden Werte des jeweiligen Kollektivs erleichtern.“ (VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 283) Der Selbstzweck des Kunstwerks ist daher nicht im kantischen Sinne zu verstehen - auch wenn Kant die Bedeutung des Subjekts für ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Urteil als erster betont hatte -, da der Betrachter als Teil eines historischen oder soziologischen Kollektivs seine Interessen bei der Konstituierung des Kunstobjekts realisieren und ihm je nach historisch-soziologischem Standort verschiedene höchste Werte zuschreiben kann.

Keine umfassend semiotische Theorie, aber eine Theorie, die semiotische Elemente integriert, ist die Rezeptionsästhetik der 70er Jahre, die - als Versuch der Weiterentwicklung des Prager Strukturalismus - das literarische Werk als Zeichen begreift, dem in der Rezeption unter­schiedlichste Bedeutungen zugeschrieben werden können. Dabei gehen Hans Robert JAUß und Wolfgang ISER nur wenig auf das Problem der Wertung ein, am ehesten noch in Jauß’ Schrift „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ (1970). Als Objekt der Wer­tung wird nur das autonome Kunstwerk anerkannt, keine Werke mit Elementen nur begleiten­der ästhetischer Funktion. Der Wert eines Werks bemißt sich in der Überschreitung des Erwar­tungshorizontes des Rezipienten, wobei dann das Werk für jeden Rezipienten einen anderen Wert hätte. JAUß erschließt den Horizont jedoch nicht durch empirische Leserforschung, sondern - auf hermeneutische Weise - aus den Werken und begleitenden poetologischen Texten. (JAUß 1970, 176) Ein kompetenter Leser - und nur den akzeptiert JAUß - besitzt damit die nötigen Informationen und erkennt die Übersteigung des literarhistorisch begrün­deten alten Erwartungshorizonts.[46]

Ganz oben in der Werthierarchie steht somit „eine Werkstruktur, die dazu anreizt, in immer neuen Rezeptionen endlos immer neue Bedeutungen hervorzubringen.“ (VON HEYDE­BRAND/WINKO 1996, 288) Die Kriterien der Innovation und Kritik an der Tradition[47] gelten nun - ästhetisch und gesellschaftlich verstanden - für das Werk und die Rezeption: Inter-pretationen kanonisierter Werke gegen den Strich verhindern Automatisierung in der Wahr-nehmung oder Trivialisierung klassischer Werke.

 

3.4.3) Problematisierung der Wertung auf der Basis von Poststrukturalismus bzw.

          Dekonstruktion

Die nicht streng voneinander zu unterscheidenden Theorien des Poststrukturalismus bzw. der Dekonstruktion machen durch folgende Grundannahmen eine intersubjektive Wertung von Literatur unmöglich (vgl. VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 291f.): Die Bedeutung von Zeichen ist nicht festlegbar, außer durch Ideologie und Macht. Ein abgeschlossenes Werk ist nicht denkbar, da die Zeichen in der Gesamtheit eines unendlichen Textes stehen. Weder für Objekte noch für Subjekte gibt es eine Identität. Daraus folgt, daß Subjekte, die in sich selbst nicht identisch sind, einen ‘Gegenstand’ ständig neu konstituieren und damit als Objekt auflösen. Somit wäre Wertung völlig beliebig, nachprüfbare Wertung unmöglich. Die Beispiele Roland BARTHES und Paul DE MAN zeigen, daß beide Vertreter des Poststrukturalismus diese letzte Folgerung nicht ziehen.

Roland BARTHES, der sich um 1970 vom Strukturalisten zum Poststrukturalisten wandelt, bewertet in seinem Essay „Le plaisir du texte“ (1973)[48] verschiedene Leseweisen und damit entgegen seiner eigenen theoretischen Voraussetzung auch Werke im Hinblick auf einen Kanon von „Kunst“. Abgewertet wird traditionelles Lesen, das Sinn und Zusammenhang im Text sucht. Aufgewertet wird dekonstruktives Lesen, das Brüche im Text sucht. Beides kann an „klassischen“ Texten durchgeführt werden und verschafft dem Leser rezeptive „Lust“ (plaisir), die in Textanalysen mitgeteilt werden kann.

Die am positivsten bewertete Stufe des dekonstruktiven Lesens, das Brüche und Fehlen von Sinn sinnlich wahrnimmt und erotisch genießt (produktive „Wollust“: jouissance), ist nur am Objekt der „modernen“ Texte möglich und nicht mitteilbar.[49] Das Leseerlebnis führt jedoch zum kreativen Weiterschreiben. Mit dieser Einschätzung bewertet BARTHES Texte der Moderne, bes. Texte der experimentellen Avantgarde, eindeutig am positivsten und stellt an die Spitze seiner Werthierarchie das Gefühl der „Wollust“ beim Rezipienten[50], hervorgerufen durch Brüche[51] im Werk, die die Abwesenheit von Gewalt belegen. Damit stellt BARTHES auch Kritik an und Freiheit von Ordnung und Herrschaft als äußerst positive Werte dar.[52] Neu ist die Abwehr der Forderung nach Ganzheit oder Wahrheit eines Textes und die Abwehr jeglicher Steuerung des Rezipienten, und sei es auch nur durch den literarischen (Kon-)Text.

Paul DE MAN zeigt in seinen Schriften „Allegories of Reading“ (1979)[53] und „Literary History and Literary Modernity“ (1969) [54] wie BARTHES die Fixierung auf einen tradierten Kanon, obwohl er von seinen theoretischen Prämissen her Wertung und Kanon ablehnt. Texte sind für ihn prinzipiell unlesbar, da ein Sinn nie festzulegen ist. Ein Textkanon ist das Ergebnis von Macht und muß durch Dekonstruktion bloßgestellt werden. Das Paradoxon ist, daß dadurch die kanonischen Texte jedoch wieder lesbar werden. Die bekannten Kriterien der Kritik und der Innovation[55] scheinen hier wieder auf:

 

 

Wer am radikalsten rebelliert, ist am meisten ‘literarisch’ und wird in den Kanon aufgenommen. Dem Kanon, so scheint es, ist nicht zu entkommen. Anders gewendet: Der Kanon ist ein Ergebnis der Differenz zum Kanon. (VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 298)

 

Damit sind die Probleme der Kanonbildung und der literarischen Wertung allgemein weiterhin ungelöst. Ein Einblick in die Geschichte der Literaturkritik wird zeigen, daß diese Offenheit bezüglich Kanon und Wertung das Ergebnis einer stetigen Entwicklung vom restriktiven zum modernen Poetikkonzept ist und daß diese Offenheit als geradezu konstitutiv für den modernen Literaturbegriff verstanden werden kann.

Dennoch kann der empirische Teil der Arbeit erweisen, daß dem Zeitungsleser in den Feuilletons weiterhin auch altbekannte Wertungskriterien begegnen.

 

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[1] Zu HARE s.u. Kap. 3.2.2.1

[2] Heute, in einer Zeit, in der so häufig von „Wertewandel“ gesprochen wird, erscheint es unmöglich, menschliche Setzungen (Werte) mit intersubjektiv nachprüfbaren, immer gültigen Tatsachen gleichrangig zu behandeln.

[3] Vgl. GREWENDORF/MEGGLE 1974, 10f.; KURZAWA 1982, 77; KIENECKER 1989, 36ff.

[4] Vgl. FRANKENA in: GREWENDORF/MEGGLE 1974, 86

[5] Vgl. KIENECKER (1989), 40ff.

[6] Eng verwandt mit der wertphilosophischen Position des Intuitionismus ist der phänomenologisch-immanente Wertungsansatz Wolfgang KAYSERs bezüglich schöner Literatur (s.u. Teil 1, Kap. 3.4.1).

[7] Ethics and Language. New Haven 3. Aufl. 1947

[8] S.u. Teil 2, Kap. 1; auch ZILLIG (1982) bestätigt, daß in der Grammatik zwar die emotionale Färbung eines Satzes oft betont, aber die wertende Komponente von Sätzen nicht systematisch erfaßt wird, weil es keine klaren Indikatoren gibt. Lexeme werden als wertend eingestuft, „weil sie häufig in Situationen, in denen der Sprechakt ‘Bewerten’ vollzogen wird, gebraucht werden [...].“ (ZILLIG 1982, 70) Darüber hinaus gibt es jedoch keine morphologischen Kennzeichen, die ein intuitives Vorgehen ersetzen können.

[9] Zu HAREs Kritik am Naturalismus s.o. Kap. 3.1.1

[10] GREWENDORF/MEGGLE (1974, 11f.) bemerken dazu: „Daß ‘gut’ nicht durch rein empirische Merkmale definierbar ist, steht fest.“ Das Wort gut steht für „eine nicht-empirische, einfache Eigenschaft“. Dies bedeutet, daß sich die Wertung ‘gut’ nicht empirisch verifizieren läßt. Jede Wertung orientiert sich an den jeweiligen Normen des Angenehmen, des Brauchbaren, des Wahren, Guten, Schönen (vgl. KLEIN 1976, 13).

[11] Dennoch ist selbst der Maßstab für die Güte von Äpfeln nicht unbedingt eindeutig: Allgemein akzeptiert ist wahrscheinlich, daß ein Apfel reif sein sollte, doch auf das Äußere bezogen variieren die Gütekriterien je nach Einstellung. Ein makelloser, rotbackig glänzender Apfel mag für einen Food-Stylisten oder einen unkritischen Verbraucher ein guter Apfel sein, für einen Kunden, der Wert auf ökologischen Anbau legt, sind kleine Flecken und Unebenheiten vielleicht gerade ein Beweis dafür, daß der Apfel ungespritzt und damit gut ist.

[12] Daher werden in vorliegender Arbeit lexikalisch wertende Ausdrücke ohne Hinweis auf ein Bewer-tungskriterium von denen mit Hinweis auf ein Kriterium getrennt aufgeführt (Teil 2, Kap. 2 vs. Kap. 3-11).

[13] Gelungen ist das [...] weniger gut in „Ultima Thule. Eine Rückkehr.“ (SZ 15.11.88, FALCKE über BEYSE)

[14] GREWENDORF (1978, 188) bringt als Beispiel für eine Warnung den Ausruf einer besorgten Mutter, deren Sohn mit den neuen Spikes den Perserteppich im Wohnzimmer betreten will: Du, das ist ein guter Teppich! Das Beispiel für eine Ermahnung ist die mißbilligende Äußerung eines Vaters, dessen Sohn einen teuren alten Wein wie Limonade trinkt: Mein Lieber, das ist ein guter Wein.

[15] Vgl. J. J. KATZ (1964): Semantic theory and the meaning of ‘good’. In: Journal of Philosophy 61, 739-764: „The meaning of ‘good’ cannot stand alone as a complete concept [...]“ (761)

[16] TOULMIN, St. (1975): Der Gebrauch von Argumenten. Kronberg/Ts.

[17] Dies unterscheidet Zhongs Modell von dem RIPFELs.

[18] ZHONG (1995, 143) nennt das bewertungaspektinterne Gewichten Einstufen, d.h. „die unterschiedliche Besetzung einer bestimmten Stufe auf der Wertskala, die den Grad angibt, in dem ein Bewertungsgegenstand den Bewertungsmaßstab erfüllt oder nicht erfüllt.“

[19] Für ZHONG (1995, 143) ist neben dem Einstufen bewertungsaspektinternes und -externes Gewichten möglich, „die Relationierung von Einstufungsergebnissen sowohl innerhalb eines bestimmten Bewertungs­aspektes als auch mehrerer Bewertungsaspekte untereinander“; für den einen Rezensenten ist die Sprache zwar originell, doch nicht im ganzen Buch (intern) bzw. die Sprache zwar originell, doch die Handlung langweilig (extern).

[20] Vgl. MOOREs intuitionistischer Ansatz (s.o. Kap. 3.1.2)

[21] VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 40) unterscheiden „axiologische“ Werte (fast gleichbedeutend mit ‘Maßstab’ oder ‘Kriterium’) beim wertenden Subjekt (daß z.B. eine Pointe eines Epigramms als positiver Wert betrachtet wird) und „attributive“ Werte beim bewerteten Objekt (daß in einem Epigramm eine Pointe erkannt wird und das Epigramm damit insgesamt einen positiven Wert enthält): „Der Begriff ‘axiologischer Wert’ bezeichnet den Maßstab, der ein Objekt oder ein Merkmal des Objekts als ‘wertvoll’ erscheinen läßt, es als Wert erkennbar macht. Außerdem kann ein axiologischer Wert in einem gegebenen Wertsystem andere, von ihm abgeleitete Werte rechtfertigen.“

[22] Vgl. VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 251-299)

[23] Interessant für Teil 2 der vorliegenden Untersuchung sind die Kriterien der dargestellten Theorien und deren Zusammenhang mit den in Teil 2 extrapolierten Wertungskriterien.

[24] Vgl. Teil 2, Kap. 3: Künstlerischer Wert, Echtheit, Substanz

[25] Vgl. Teil 2, Kap. 9: Gefühl

[26] KAYSER (181978, 17) betont aus phänomenologischer Sicht: „Die beiden wichtigsten Arbeiten aus neuerer Zeit zur Gegenstandsbestimmung der Literaturwissenschaft bzw. zur Erhellung des Seins literarischer Texte sind die von dem polnischen Forscher Roman Ingarden, einem Schüler des Philosophen Husserl, Das literarische Kunstwerk, und von Günther Müller Über die Seinsweise von Dichtung.“

[27] KAYSER schreibt in seinem Vorwort (181978, 5): „Das vorliegende Buch führt in die Arbeitsweisen ein, mit deren Hilfe sich eine Dichtung als sprachliches Kunstwerk erschließt. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat überwiegend mit anderer Zielsetzung gearbeitet. Sie stellte das Werk in Bezüge zu außerdichterischen Phänomenen und meinte, erst da das eigentliche Leben anzutreffen, dessen Abglanz dann das Werk sein sollte. Die Persönlichkeit eines Dichters oder seine Weltanschauung, eine literarische Bewegung oder eine Generation, eine soziale Gruppe oder eine Landschaft, ein Epochengeist oder ein Volkscharakter, schließlich Probleme und Ideen -, das waren die Lebensmächte, denen man sich durch die Dichtung zu nähern suchte. So berechtigt solche Arbeitsweisen auch heute noch sind und so groß ihr Ertrag sein mag, es stellt sich die Frage, ob damit nicht das Wesen des sprachlichen Kunstwerks vernachlässigt und die eigentliche Aufgabe literarischer Forschung übersehen wird. Eine Dichtung lebt und entsteht nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge.“

[28] Außerdem holt hier die deutschsprachige Literaturwissenschaft nur nach, was die formbezogene „explication de texte“ in Frankreich und der New Criticism im englischsprachigen Raum schon in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus Gründen des Prestigeerhalts der Literaturwissenschaft vorexerziert hatten.

[29] SENGLE, F. (1955): Ein Aspekt der literarischen Wertung.- Wiederabdruck in: ders. (1980): Literaturge-schichtsschreibung ohne Schulungsauftrag. Werkstattberichte, Methodenlehre, Kritik. Tübingen, 50-55

[30] HASS, H.-E. (1959): [Literarische Wertung und Kulturgemeinschaft]. Auszug aus: Ders. (1959): Das Problem der literarischen Wertung. In: MECKLENBURG (1977, 41-47)

[31] EMRICH, W. (1963): Das Problem der Wertung und Rangordnung literarischer Werte. Wiederabdruck in: MECKLENBURG (1977, 48-69)

[32] WEHRLI, M. (1965): Wert und Unwert in der Dichtung. Wiederabdruck in: Gebhardt (1980, 205-222)

[33] MÜLLER-SEIDEL, W. (1965): Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas. Stuttgart

[34] VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 262) bemerken zu dem Begriff ‘Ideologiekritik’: „Ideologie heißt im Sinne dieser Kritik auch einfach ein notwendig ‘falsches Bewußtsein’; ‘falsch’ ist es nicht in bezug auf eine empirisch nachprüfbare ‘Wahrheit’ gesellschaftlicher Oberflächenphänomene, sondern in bezug auf die tiefere ‘Wahrheit’ historischer Prozesse, wie sie sich etwa in der Theorie des historisch-dialektischen Materialismus von Karl Marx u.a. darstellt.“

[35] Vgl. Teil 2, Kap. 8: Kritische Kraft

[36] ADORNO, Th. W. (1958a): Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Ders. (1958): Noten zur Literatur. Frankfurt/M., 105-143

[37] ADORNO, Th. W. (1958b): Der Essay als Form. In: Ders. (1958): Noten zur Literatur. Frankfurt/M., 9-49

[38] ADORNO, Th. W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.

[39] Vgl. Teil 2, Kap.5: Originalität/Innovation, Kap. 8: Kritische Kraft

[40] VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 268) nennen diese Richtung daher „synkretistisch“.

[41] Die Darstellung folgt hier den Ergebnissen der Untersuchung von Thomas ANZ (1982): Wertungskriterien und Probleme literaturwissenschaftlicher Ideologiekritik. In: LENZ, B./ B. SCHULTE-MIDDELICH (Hgg.) (1982): Beschreiben, Interpretieren, Werten. Das Wertungsproblem in der Literatur aus der Sicht unterschied­licher Methoden. München, 214-247. (Nach VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 269ff.)

[42] Vgl. Teil 2, Kap. 5: Originalität/Innovation, Kap. 8: Kritische Kraft

[43] In: MUKAROVSKÝ, J. (1970): Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt/M., 7-112

[44] Vgl. Teil 2, Kap. 3: Künstlerischer Wert, Echtheit, Substanz

[45] Vgl. MUKAROVSKÝ (1970, 106ff.) nach VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 283)

[46] Das Problem dabei ist, daß sich auch historisch für die unterschiedlichen literarischen Epochen kein einheitlicher Erwartungshorizont konstruieren läßt.

[47] Vgl. Teil 2, Kap. 5 und Kap. 8

[48] BARTHES, R. (1973): Le plaisir du texte. Paris; dt. (1974): Die Lust am Text. Frankfurt/M.

[49] Vgl. Teil 2, Kap. 9: Gefühl

[50] Vgl. die Beschäftigung der Rezeptionsästhetik mit dem Lesevorgang

[51] Vgl. die Formalisten und Strukturalisten

[52] Vgl. die Kritische Theorie und die Ideologiekritik (s.a. Teil 2, Kap. 8: Kritische Kraft)

[53] DE MAN, P. (1979): Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust. New Haven, London

[54] DE MAN, P.: Literary History and Literary Modernity. In: Ders. (21983): Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Minneapolis, 142-165

[55] Vgl. Teil 2, Kap. 5 und Kap. 8