3) KÜNSTLERISCHER WERT, ECHTHEIT, SUBSTANZ

 

 

Anders als die lexikalisch wertenden Lexeme, die die Wertungsrichtung und den Grad der Wertung angeben und höchstens eine geringfügige Zusatzbedeutung aufweisen, lassen manche lexikalisch wertenden und alle kontextuell wertenden Lexeme Aspekte der Wertung erkennen. Auch wenn einige Rezensionen den Verdacht nahelegen, das wichtigste Wertungskriterium stehe fest, ein guter Roman sei ein gut rezensierbarer Roman,[1] so lassen sich doch verschiedene Wertungskriterien aus den Rezensionen abstrahieren und generalisieren.

Die Lexeme sind in den folgenden Kapiteln nach Wertungskriterien und Wertungsrichtungen geordnet. Mehreren Wörtern ist ein Sem, z.B. ‘Emotionalität’, gemeinsam; gemäß diesem für die Wertungsfunktion der betreffenden Wörter wichtigsten Sem werden die Wörter dem Kriterium zugeordnet. Die Wörter mit gemeinsamem Sem sind semantische Nachbarn (SCHIPPAN 21975, 31), sie verbinden sich zu Gruppen oder Reihen (paradigmatisch z.B. gefühlvoll, empfindsam, sensibel, zart etc.), die sich wiederum unterteilen lassen in positiv und negativ wertende und andere Untergruppen. Die Bewertungsrichtung ergibt sich häufig erst aus dem Kontext, nicht immer - wie bei reinen „Wertwörtern“ - aus dem begrifflichen Kern; dennoch ist in manchen Fällen die Bewertung auch schon aus der Wertung des begrifflichen Kerns der Bedeutung, die sich dann auf die Bezeichnung überträgt (z.B. Kadavergehorsam), erkennbar, ebenso auch aus der peripheren Bedeutungsschicht wie Nebensinn oder Gefühlswert (Unwahrheit wertet nicht so negativ wie Lüge).

Die Wörter der positiven und negativen Wertungsrichtung, die sich einander annähernd entsprechen, stellen zumeist keine echten Antonyme dar, wenn man Antonyme mit SCHIPPAN (21975, 148) definiert als

 

 

Lexempaare gleicher Wortart [...], die mit mindestens einem Semem die gleiche Stelle in einer syntaktischen Struktur einnehmen können, den gleichen Kreis von Kontextpartnern besitzen, somit in einem Kern von Bedeutungselementen übereinstimmen [...]. Die beiden Antonyme könnten als entgegengesetzte Pole auf einer angenommenen „Achse“ für eine entsprechende Raum-, Zeit-, Beschaffenheits-, Wertungs- oder Lageangabe angesehen werden.

 

 

Metaphern und Vergleiche sind den entsprechenden Kriterien zugeteilt und ihrerseits nach bildspendenden Feldern geordnet. Die Zuordnung zu den Kriterien erfolgt aufgrund des Bildfeldes der einzelnen Metapher bzw. des einzelnen Vergleichs und/oder aufgrund ihres Kontextes.

Schon für Wolfgang KAYSER ist die ‘ästhetische Form’ von Literatur der höchste Wert eines literarischen Kunstwerks. Der Wert des „Schön-Sein[s]“ (KAYSER 1958a, 56) übertrifft bei weitem die Werte des ‘Wahren’ und ‘Guten’. Das Formal-Ästhetische ist verantwortlich für das Prädikat des Schönen. Nur dann könne „Ergriffenheit von der Erscheinung“ (KAYSER 1958a, 56)[2] und „Freiheit [...], im Abstand sich über die Realität zu erheben und ihr Eigentliches richtig mit der Sprache zu bannen und zu fassen“ (KAYSER 1958b, 60)[3] vom Kunstwerk ausgehen.

Der Strukturalist Jan MUKAROVSKÝ erkennt ebenfalls das Ästhetische als eigenen Wert an. Er unterscheidet in seiner Untersuchung über „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ von 1935/36, in der er die verschiedenen Funktionen ästhetischer Werte in der Gesellschaft analysiert, ästhetische Erscheinungen, bei denen die ästhetische Funktion nur andere nicht-ästhetische Funktionen begleitet (Essay, Biographie etc.), vom Bereich der (autonomen) Kunst, in dem die ästhetische Funktion vorherrscht und ein Zeichen erst zum Kunstwerk macht.[4] Gelehrte Kenner können durch ihre Intuition und Vergleichskompetenz den ahistorisch in den Texten begründeten ästhetischen Wert erkennen, oder er wird aus den jeweiligen Diskursen über Literatur und Kunst gebildet.

 

 

 

 

 

 

 

3.1) POSITIV WERTEND

 

3.1.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Daß eine künstlerische Arbeit wirklich Gehalt hat und nicht oberflächlich oder gekünstelt geschrieben ist, macht der Rezensent mit Begriffen deutlich wie echt, genuin[5], veritabel[6], oder er preist die Intensität.

 

 

Das ist kein geborgtes Märchen, [...], nicht kostbar gemacht durch fremden Schmuck, sondern ernst und echt und streng, [...] (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

[...] so ist der Wille zum Scheitern in den „Ausfällen“ [Titel] doch immer nur eine rhetorische Figur und nie genuine Erfahrung des Autors. (ZEIT 22.4.88, RATHJEN über POLITYC­KI)

Mir schienen [...] veritable, gebaute, gedachte, gelungene Gedichte vorzuliegen. (ZEIT 9.9.88, RADDATZ über BOOCK)

Dies verleiht dem Buch seine ungeheure Intensität [...] (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

[...] elf Erzählungen, die nicht die Mühe und Anstrengung der Autorin verraten, wohl aber die Intensität der Auseinandersetzung mit ihrem Thema, der Erinnerung. (ZEIT 23.2.88, HACKL über TASSONI)

 

 

Daß das beurteilte Werk wirklich Substanz aufweist zeigt sich auch an Bewertungen wie reich[7], Reichhaltigkeit, Komplexität, kompakt, konzentriert.

 

 

Aber dies Werk [...] ist so reich [...] (ZEIT 4.3.88, MODICK über ENZENSBERGER)

Komplexität, Reichhaltigkeit [...] kennzeichnen auch Eigners Prosa [...] (ZEIT 19.8.88, HORSTMANN über EIGNER)

Wer zu lesen versteht, hat viel Spaß an dieser „Verabredung in Rom“; an [...] ihrer ironisch getönten, kompakten Prosa. (SZ 5.10.88, BENDER über HEGEWALD)

Bebend von innerer Dramatik ist „Meduse“ die geradlinigste, konzentrierteste Erzählung der Schweizer Autorin geworden. (FAZ 29.3.88, KURZ über LEUTENEGGER)

 

 

Der reinen Prahlerei setzt der Kritiker Begriffe entgegen wie uneitel, Schlichtheit. ernsthaft, Ernsthaftigkeit, dem Aufblähen und dick Auftragen wird Straffen und Weglassen gegenübergestellt.

 

 

[...] und jene spezifische Art von Humor, die sich zu mokieren weiß aus einer ganz uneitlen Ernsthaftigkeit heraus. (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

Gedichte, die durch ihre anspruchslose Schlichtheit einnehmen [...] (SZ 1.6.88, STADLER über MECKEL)

Auch gegen berührende Schlichtheit wird wohl niemand etwas einzuwenden haben [...] (FAZ 6.2.88, WEINZIERL über MÜLLER)

Das ist törichtes Geschwätz, ohne ernsthafte Anstrengung [...] (FAZ 4.10.88, GÖRTZ über FELS)

Andreas Neumeister macht den Fehler vieler Debütanten: Er bläht seinen Stoff auf, anstatt ihn zu straffen. (FAZ 29.3.88, WITTSTOCK über NEUMEISTER)

Überhaupt beherrscht dieser Schriftsteller die Kunst des Weglassens, des trockenen Tons. (ZEIT 7.10.88, VON BECKER über ROTHMANN)

 

 

 

3.1.2) Metaphern und Vergleiche

Aus folgenden Bildbereichen stammen die positiv wertenden Metaphern und Vergleiche:

Es werden synästhetische Metaphern und Vergleiche gebraucht, die den Eindruck des sprachlichen Kunstwerks koppeln mit der Sehempfindung (Malerei/ Bildhauerei, Wahrnehmung von Feuer und Leuchtendem allgemein) und der Geschmacksempfindung (Essen und Trinken).

Ebenso findet sich die Verwendung von Eigennamen als Metaphern und Vergleiche, im positiv wertenden Bereich nur Namen von Schriftstellern und ein Beleg für einen Maler.

Auch werden Einzelheiten von Romanen und Lyrikbänden mit Bestandteilen der Theaterwelt, mit der Natur, mit dem menschlichen Organismus, einer bestimmten Altersgruppe (Jugend), dem Handwerk allgemein, mit dem Weben und Knüpfen speziell und mit Materialien in Verbindung gebracht.

 

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

(1.1) Literatur und Sehempfindung

(1.1.1) Feuer

 

[Untertitel] Ein Feuerwerk zum Auftakt [...] (SZ 28.5.88, DREWS über ALLEMANN)

 

(1.1.2) Licht

 

Viele ihrer [=der Autorin] Sätze leuchten, als seien sie durch die härteste Gegenströmung von Angst und Selbstbezweiflung hindurchgegangen [...] (ZEIT 22.4.88, NEUMANN über AICHINGER)

[...] leuchtende Sätze [...] (ZEIT 5.8.88, VON BECKER über ALLEMANN)

[...] denn „Balzapf“ ist wohl einer der sprachlich funkelndsten Romane der siebziger Jahre gewesen [...] (SZ 17.9.88, FISCHER über SPÄTH)

[Überschrift] Das strahlende, fast unbemerkte Debüt einer DDR-Erzählerin (ZEIT 29.7.88, CRAMER über BURMEISTER)

 

(1.2) Literatur und Hörempfindung

Es liegen nur negative Wertungen vor. Das folgende positiv wertende Beispiel ist nicht zu den musikalischen Synästhesien zu rechnen, da der Sprache selbst auch die Qualität des Rhythmus zukommt:

 

 

Dieser Roman [...] fesselt [...], weil Ransmayr mit strenger, herrlich rhythmischer Sprache ohne Scheu die großen Bilder entfaltet [...] (SZ 22.10.88, EGGEBRECHT über RANSMAYR)

 

 

(1.3) Literatur und Geschmacksempfindung

Daß der im folgenden Beleg rezensierte Roman nichts Gekünsteltes an sich hat, belegen die Ausdrücke Brocken - Umfang und Gewichtigkeit bezeichnend - , deftig und dampfend.

 

 

„Barbarswila“ ist ein epischer Brocken, wie er nicht alle Tage auf den Tisch kommt, ein deftiges, dampfendes Stück Literatur. (FAZ 10.9.88, JACOBS über SPÄTH)

 

 

Zwei weitere Belege stellen eine positiv wertende kulinarische Metapher einer negativ wertenden gegenüber:

Im Bereich des Essens stellt der Rezensent KILB dem positiv bewerteten - weil massiven, inhalts- und vitaminreichen - Apfel das negativ bewertete Popcorn gegenüber, das ohne Geschmack und wahren Inhalt ist wie Ulla Hahns Gedicht:

 

 

Ein guter, schöner und wahrer Apfel möchte auch dieses Gedicht sein. Aber kennen Sie das, wenn etwas Hartes und Körniges bei plötzlicher Hitze zerplatzt und eine milchige Masse freisetzt, die ebenso weich wie geschmacksneutral ist? Das nennt man Popcorn, Damen und Herren. (ZEIT 25.3.88, KILB über HAHN)

 

 

Als kulinarische Metapher setzt der folgende Rezensent zwei Arten von alkoholischen Getränken ein, wobei die Alkoholkonzentration der Gradmesser für die Qualität des rezensierten Werkes ist; ein hochprozentiges Sprachelixier enthält eine positive Wertung bezüglich des konzentrierten Inhalts, was man von einem Longdrink nicht unbedingt behaupten kann.

 

 

Gegen dieses von Gerd-Peter Eigner vor drei Jahren ausgeschenkte hochprozentige Sprachelixier ist das Nachfolgeprodukt, ist „Mitten entzwei“ wohl eher ein Longdrink. [Ab­schließender Satz der Rezension] (ZEIT 19.8.88, HORSTMANN über EIGNER)

 

(2) Eigennamen

Die positiv bewerteten Eigennamen der Schriftsteller Erich Kästner (zusammen mit seinem Werk „Fabian“) und Hans Scholz[8]  werden dem schlechter eingestuften rezensierten Autor Thomas Becker gegenübergestellt; der ist wiederum in einer Genitivmetapher mit dem Eigennamen des deutschen Fernsehunterhalters Thomas Gottschalk charakterisiert,[9] der stellvertretend für die Kategorie ‘leichte Unterhaltung’ steht. Geistig anspruchsvoller Literatur wird somit ein nicht so anspruchsvolles Werk gegenübergestellt.

 

 

Mit ihnen [=Erich Kästners „Fabian“ und Hans Scholz] verglichen ist Thorsten Becker einstweilen eher eine Art Thomas Gottschalk der Literatur. Doch Talent und Ton [...] lassen Thorsten Becker immer noch als einen Vielversprechenden erscheinen [...]. (SZ 16.1.88, KAISER über BECKER)

 

 

(3) Theater

Im Bildbereich des Theaters stellt der folgende Rezensent der negativ bewerteten Charge[10] den positiv bewerteten Charakter gegenüber; die oberflächlich gezeichnete, unwichtige Rolle wird mit einer Hauptrolle, die viel Substanz aufweist, konfrontiert.

 

 

Im nachfolgenden „Schwanenhaus“ reift die Charge allmählich zum Charakter [...]. (ZEIT 16.9.88, HAGE über WALSER)

 

 

(4) (Unbelebte) Natur

Aus der Physik stammt die Metapher des spezifischen Gewichts, das das Gewicht der Raumeinheit eines Stoffes bezeichnet, das zahlengleich der Dichte eines Stoffes ist. Daher ist die gedankliche Verbindung zu Verdichtung, die der Rezensent vollzieht, physikalisch richtig; in der Aussage über das rezensierte Werk ist beides bedeutungsgleich.

 

 

Ich habe lange keine Kurzprosa mehr gelesen, in der [...]. Und gewiß keine Prosa von solcher Verdichtung, von solchem spezifischen Gewicht der Sätze. (FAZ 23.4.88, HINCK über HAUFS)

 

(5) Menschlicher Organismus

Auf das nicht nur Äußerliche, Oberflächliche eines Werkes, das bis in die Tiefen differenziert ausgearbeitet ist, verweist eine Metapher, die das Bild des Webens und Verflechtens auf den menschlichen Organismus überträgt. Allerdings ist das Bild sachlich falsch, da die getrennten Systeme der Nervenbahnen und Adern im Körper nicht verflochten sind, daher ließe sich auch von einer Katachrese sprechen.[11]

 

 

[...] die feinen Verflechtungen der lyrischen Nervenbahnen mit den Hauptadern der gedanklichen Abläufe [...] (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

 

 

(6) Handwerk

Die Tradition des Dichters als Handwerker leuchtet auf, wenn der Prahlerei solide, inhaltsreiche Arbeit gegenübergestellt wird. Wenn das Handwerkliche auch im Hinblick auf die hohe Kunst verpönt ist,[12] so wird im hier genannten Zusammenhang der Begriff Handwerk eindeutig positiv wertend verwendet. Schon in antiken Poetiken wird immer wieder auf das Zusammenwirken von ars (dem handwerklichen Faktor der Kunst) und ingenium (dem Faktor der Eingebung, des Genialischen) hingewiesen. Fehlt ein Faktor, kann nicht von wahrer Kunst gesprochen werden.[13]

 

 

Hofmann, ein Erzähler von traditioneller Handwerkssolidität, hat einmal darauf hingewiesen [...] (FAZ 13.8.88, BRODE über HOFMANN)

 

 

Hinsichtlich des Kriteriums originalität wäre das Basiswort Solidität[14] keine Auszeichnung, doch gegenüber dem Blendwerk vieler Autoren ist ein Hinweis auf dargebotene Substanz eine positive Wertung.

 

 

[...] er [=der Autor] hat, handwerklich durchaus geschult, tradierte Symbole [...] genutzt [...] (FAZ 18.10.88, MEYHÖFER über HEINZEN)

Er beherrscht sein Handwerk [...] (FAZ 13.6.88, SEGEBRECHT über RÜCKER)

 

 

Trotz des Mißtrauens, das von seiten der Kunsttheorie seit der Genieästhetik dem Gemachten, Erlernbaren, Handwerklichen entgegengebracht wird, wird hier der Bezug zu dem alten Topos des Dichters als Handwerker hergestellt.

 

(7) Stoff und Bekleidung

Mit dem Begriff der Dichtung wird - wie in Teil 2, Kap. 1 gezeigt - häufig das Bild eines dichten Stoffes, der Verdichtung oder - vielleicht geleitet von der Übersetzung des Wortes Text - des Gewebes, des Gewebten, des Webens und (Ver)flechtens verbunden, ebenso das Bild des Knüpfens und Verknüpfens. Diese Begriffe stellen alle positive Werte dar.

 

 

[...] und [er] schreibt eine dichte, wenn auch gelegentlich etwas manierierte Prosa von eigenwilliger Kraft und Frische. (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

Hier [=in der letzten Erzählung] gibt es die sprachlich dichtesten Momente. (SZ 30.11.88, KÄSSENS über BERKÉWICZ)

Und in „Siestri Levante, Winterstrand“, der vielleicht dichtesten der Momentaufnahmen [...] (SZ 2.11.88, LEDANFF über SCHUTTING)

[...] ein solches Stadtporträt aber ist in Michael Buselmeiers [...] Erzählung [...] bissiger und dichter gelungen [...]. (ZEIT 9.9.88, HAGE über ZELLER)

Ich habe lange keine Kurzprosa mehr gelesen, in der [...]. Und gewiß keine Prosa von solcher Verdichtung, von solchem spezifischen Gewicht der Sätze. (FAZ 23.4.88, HINCK über HAUFS)

Die Sprache informiert reportagenhaft, verknüpft, verdichtet nicht. (SZ 16.3.88, KATZ über OSSOWSKI)

Schädlich hat die dumpfe, knappe, mit kruden Absonderlichkeiten gespickte Sprache der Zeitzeugen verdichtet zu einer Kunstsprache, die das bedrückend Resignierte dieser Auskünfte bewahrt. (ZEIT 22.1.88, AHRENDS über SCHÄDLICH)

[...] dies ist das eindrucksvoll Neue in Jutta Schuttings verdichteter Beschreibungskunst [...] (SZ 2.11.88, LEDANFF über SCHUTTING)

So gewinnt die Geschichte eine visuelle Dichte [...] (ZEIT 25.3.88, HORSTMANN über PRAESENT)

Dabei verschränken sich Erlebtes und Er-Lesenes [...] zu einem eigentümlichen Assoziationsgeflecht, einem lockeren und doch reißfesten Gewebe aus erzählenden und essayistischen Elementen. (SZ 5.10.88, SCHIRNDING über HÄRTLING)

 

 

 

 

 

 

 

(8) Material

Positiv wertend wird mit einem Material verglichen, das nichts vortäuschen muß, weil es massiv, wertvoll und zeitlos ist, mit Gold[15], oder mit einem Material, das nichts vortäuschen kann, weil es durchsichtig ist, nämlich Glas.

 

 

[...] feinste Partikel aus dem Alltagsleben, eingefaßt in wertbeständiges Wortgold. (ZEIT 16.9.88, HAGE über WALSER)

Was für ein wunderliches Buch! Durchsichtig und uneinsehbar zugleich, gläsern zart wie die schönsten Gedichte der Sarah Kirsch und auch rokokohaft verzärtelt. (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

 

 

 

3.2) Negativ wertend

 

3.2.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Mit folgenden Wortbildungselementen, Wörtern und Wortgruppen wird kritisiert, daß der Künstler nur etwas vorgibt und nichts Echtes vorzuweisen hat: prätendieren, prätentiös[16], unecht, falsch, pseudo-[17], Schein-[18], Möchtegern-[19], soll ... (er)scheinen, will ... sein, ebenso durch Wörter, die in Anführungszeichen gesetzt sind[20].

[...] aber diese ständigen Konjunktiv-Demonstrationen erscheinen als bloße Stil-Gebärden, die erzählerische Souveränität prätendieren wollen. (ZEIT 7.10.88, BRAND über KONEFFKE)

Gewiß kann man prätentiöse, auch schwülstige Wendungen finden [...] (FAZ 30.1.88, UEDING über ECKART)

[...] [in einem Journal des Luxus und der Moden] hätten sie [=die Prosaminiaturen] sich gefahrlos in ihrer prätentiösen Banalität spiegeln können. (FAZ 13.10.88, FULD über HERMANN)

Das Bild gedankenverlorener Einsamkeit und utopischen Leseglücks malt der Autor nach allen Regeln prätentiöser Stilisierung aus. (ZEIT 7.10.88, BRAND über KONEFFKE)

Aber bei einem Prosastück, das auf knappstem Raum einen so bewußt hohen Ton anschlägt und sich mit einiger Bedeutsamkeit geriert, dürften doch keine Worte auftauchen wie „einwohnermäßig“ [...]. (SZ 19.11.88, VON BECKER über SCHMIDT)

 

 

Der Ausdruck Sich mit Bedeutsamkeit gerieren im letzten Beispiel enthält die Implikation ‘keine Bedeutsamkeit haben’ und spricht damit eine negative Wertung aus.

 

 

[...] und der inflationäre Gebrauch des Wortes „echt“ sollte das eher Unechte vertuschen helfen. (FAZ 31.5.88, KLESSMANN über ORTMANN)

Die Kinderperspektive wirkt so falsch und pseudonaiv [...] (FAZ 23.4.88, OBERMÜLLER über KRANEIS)

[...] pseudoexistentialistische Phraseologie, wie man sie aus Kinoreklamen kennt [...] (ZEIT 7.10.88, STEINERT über SAEGER)

Mit einer Pseudo-Satire täuscht er [=der Autor] Kritik vor und spart alles aus, was der Kritik bedarf. (ZEIT 25.3.88, LÜDKE über KANT)

Damit wird höchstens Pseudoerlesenheit erreicht [...] (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

[...] doch bleiben die Übertreibung, das verbale Scheingefecht, gar die Scheinraserei die seltenen Ausnahmen [...] (FAZ 30.1.88, UEDING über ECKART)

Denn dieser „moderne“ Möchtegernroman [...] (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

[...] einplaniert durch den der Autorin eigentümlichen, Hauptsatz an Hauptsatz reihenden Stil, der lakonisch scheinen soll [...] (FAZ 2.8.88, MEYHÖFER über BRÜCKNER)

 

 

Die Implikation des letzten Beleges lautet: ‘Der Stil ist nicht lakonisch, das Beabsichtigte ist nur äußerlich und nicht gelungen.’

 

 

[...] hat sich die Autorin ein Gerüst ausgeliehen [=Comic strip], das ihre Geschichte tragen und die künstliche Oberfläche, unter der sich nichts verbirgt, als Kunst erscheinen lassen soll. (FAZ 2.3.88, HEINRICH-JOST über SCHOLTEN)

Manchmal landet eine poetische Bildlichkeit, die verblüffend sein will, auch nur bei einem Mini-Surrealismus [...] (SZ 28.5.88, DREWS über ALLEMANN)

 

 

Anführungszeichen als Signale des uneigentlichen Sprechens zeigen im folgenden Beispiel ebenfalls an, daß etwas nur vorgegeben wird.

Denn dieser „moderne“ Möchtegernroman [...] Diese sich neu gerierende, doch sattsam bekannte „Wildheit“, die den Krieg als „Vater der Kontur“ feiert [...] (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

 

 

Mit den Anführungszeichen für das Adjektiv modern macht der Rezensent einen Inhaltsvorbehalt[21] deutlich. KLOCKOW (1980) unterscheidet zwischen „Applikations-“ und „Begriffsvor-behalt“.

 

 

Ein durch AZ [=Anführungszeichen] signalisierter inhaltsvorbehalt kann sich auf die aktuelle applikation des ausdrucks oder auf seine sprachinterne bedeutung, den mit ihm verbundenen begriff, beziehen. (KLOCKOW 1980, 177)

 

 

Nicht der Sinn des Wortes modern wird grundsätzlich in Frage gestellt (=Begriffsvorbehalt), sondern die Anwendung des Wortes auf den vorliegenden Roman (=Applikationsvorbehalt). Analog zu KLOCKOWs Erläuterung (1980, 178) läßt sich formulieren: Der Roman wird durch die Anführungszeichen aus der Extension von modern ausgeschlossen (oder zumindest als zweifelhaftes Mitglied gekennzeichnet), weil er nicht alle von der Begriffsintension gestellten Bedingungen erfüllt. Zusätzlich arbeitet der Rezensent mit Ironie, wenn er die Wildheit durch die Anführungszeichen als nur unecht darstellt.

 

Das Äußerliche, Oberflächliche wird ebenso getadelt durch Begriffe wie Rhetorik/rhetorisch, Dekoration, Ornamentales, Oberfläche[22], vordergründig, äußerlich, blaß/Blässe/bläßlich.

Daß der Begriff der Rhetorik und seine Ableitungen pejorativ gebraucht werden, findet sich schon bei Platon, der ebenso wie Kant unter Rhetorik einen Überredungsversuch bezüglich fragwürdiger Inhalte versteht. Im Rahmen des Geniekults und der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert fällt die Rhetorik unter das Verdikt der Unlauterkeit. Zu begründen sind diese abwertenden Sichtweisen aus einem Rhetorikverständnis heraus, das den ornatus im Vordergrund der Redekunst sieht (vgl. FISCHER 31975, 134).

Reine Rhetorik, Stil als Manier. (ZEIT 12.8.88, DOTZAUER über REICHART)

Die Sprachskepsis etwa eint diese Autoren, auch wenn sie anfangs nicht selten zur klischeehaften, bloß rhetorisch bekundeten Attitude wird [...] (FAZ 4.10.88, HIEBER über SOELLNER)

[...] so ist der Wille zum Scheitern [...] doch immer nur eine rhetorische Figur und nie genuine Erfahrung des Autors. (ZEIT 22.4.88, RATHJEN über POLITYCKI)

 

 

In diesem Beleg, der schon als Beispiel für genuin angeführt wurde, zeigt sich deutlich der Gegensatz zwischen ‘äußerlich’ und ‘echt’, zwischen rhetorisch und genuin.

 

 

[...] all die gesellschaftlichen Außenseiter, die den Roman bevölkern, haben nur die Funktion, diesem Großstadtkrimi ein wenig mehr farbenprächtige Dekoration und eine Prise „Randgruppen“-Milieu zu verleihen. (ZEIT 4.3.88, BRAUN über PELTZER)

 

 

Dekoration steht hier für etwas Aufgesetztes, Äußerliches, das nicht wirklich zu dem betreffenden Roman gehört.

Ähnlich nur das Schmückende, Äußerliche betonend, wird das substantivierte Adjektiv Ornamentales im folgenden Beleg verwendet.

 

 

Aber trotz ihrer gelegentlichen Neigung zum Ornamentalen geht von der Prosa Koneffkes immer wieder eine suggestive Kraft aus [...] (ZEIT 7.10.88, BRAND über KONEFFKE)

 

 

Das Gegensatzpaar suggestive Kraft und Ornamentales klärt letztendlich die Bedeutung und Wertungsrichtung des zweiten Begriffs.

 

 

[...] und bleibt dabei doch stets an der Oberfläche [...] (FAZ 12.8.88, HEINRICH-JOST über ASMODI)

Dazu kommt eine auffallende Neigung [...] zum vordergründig Verrätselten [...] (FAZ 6.2.88, WEINZIERL über MÜLLER)

Ein eher heiteres, aber doch nicht vordergründiges Beispiel bietet das „Gedicht über ...“ [...] (FAZ 4.10.88, SEGEBRECHT über WICHNER)

[...] so bleiben diese artistischen Bravourleistungen dem Buch doch ganz äußerlich. (FAZ 28.1.88, ENGEL über KINDER)

 

 

Schon lexikalisiert ist die relativ häufig verwendete Farbmetapher blaß als Bezeichnung für etwas Schwaches, Wirkungsloses. Je nachdem worauf sich blaß bezieht, könnte man das Adjektiv auch als negativ wertend in Bezug auf die Anschaulichkeit, auf die Emotionalität o.ä. einordnen. Gerade diese Flexibilität zeigt, daß die Grundbedeutung die allgemeine, oben genannte ist.

 

 

Doch das Mutter-Tochter-Stück dient der Schriftstellerin nur als Rahmen für eine andere, blasse Geschichte. (ZEIT 20.5.88, HILGENBERG über FRISCHMUTH)

 

 

Blaß wertet im vorausgehenden Beleg evtl. bezüglich der Spannung, der Wirkung. Im folgenden Beleg steht blaß - kombiniert mit Schemen - für mangelnde Anschaulichkeit.

 

 

Daher bleibt Orest in Jammers [...] ein blasses Schemen [...] (FAZ 4.10.88, UEDING über WALTER)

 

 

Abgenutzt deutet im nächsten Beleg auf eine Wertung bezüglich der Originalität:

 

 

Dennoch wirkt alles eine Spur zu blaß, ein wenig abgenutzt [...] (SZ 5.10.88, STROMBERG über ZELLER)

 

Der Kontext läßt eine Wertung bezüglich der Emotionalität vermuten:

 

 

Was aber bei Kierkegaard und noch bei Kafka in Formen der revolutionären Verzweiflung sich äußert, nimmt bei Burger die friedliche Blässe von Kalendersprüchen an. (FAZ 30.4.88, SCHIRRMACHER über BURGER)

 

 

Abgeschwächt wird das Adjektiv blaß durch das Suffix -lich (und Umlaut). Die negative Wertung ist weniger stark ausgeprägt als beim Adjektiv blaß.[23]

 

 

Die Sprache aber schwankt in ihrer bläßlichen Kraftlosigkeit zwischen Niedlichem und Lächerlichem: [...] (ZEIT 9.9.88, RADDATZ über BOOCK)

 

 

Oberflächlichkeit im sprachlichen Bereich kreiden die Rezensenten den Autoren mit folgenden Begriffen an: Parlando[24], Sprüchemacher, Killerphrase[25].

[...] urbanes Parlando, bisweilen epigonal, preziös und bildungsgeschmückt. (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

Er selbst aber hat sich von einem forschen sozialistischen Sprüchemacher zu einem reflektierten, skeptischen und furchtlosen Lyriker entwickelt. (FAZ 26.3.88, SEGEBRECHT über CZECHOWSKI)

 

 

Auch der vorausgehende Beleg zeigt positive und negative Begriffe nebeneinander. Die Gegenüberstellung zeigt, daß mit Sprüchemacher ein oberflächlicher Autor gemeint ist.

 

 

Die einzige Spannung, die nach wenigen Seiten Lektüre noch übrigbleibt, kommt aus der Neugier, mit welcher Killerphrase Ror Wolf nun diesmal seine Pappmaché-Geschichte abbrechen läßt. (FAZ 8.1.88, UEDING über WOLF)

 

 

Das Gekünstelt-Unechte, das fehlende Substanz verbergen will, kritisieren die Rezensenten wie folgt: Manier[26]/ manieriert[27]/ Manierismen/ Manierist/ manieristisch, stilisiert, preziös[28], gekünstelt[29], künstlich, artistisch, gespreizt/ Gespreiztheit, geschraubt[30], Gestelztes, (Sprach)po-se[31], Attitüde[32], Stil-Gebärde.

Schon Goethe stellt in seinem Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ (1789)[33] die drei Begriffe steigernd dar und erkennt im „Stil“ die Vollendung künstlerischer Darstellung. Den Begriff der „Manier“ verwendet er im Sinne der maniera der italienischen Kunstliteratur:

 

 

Ursprünglich bedeutet sie das jedem Künstler, jeder Nation, jeder Zeit eigene Verfahren künstlerischer Behandlung. In diesem wertindifferenten Sinn spricht man von maniera buona, maniera cattiva, von maniera antica, moderna usw. Im 17. Jhdt. vollzieht sich in der Kunstlehre des barocken Klassizismus (Bellori, Baldinucci u.a.) ein Bedeutungswandel. Maniera wird nun nicht mehr in Verbindung mit einem Adjektiv oder Genitiv (etwa maniera buona oder maniera di Donatello), sondern absolut gebraucht. Dipingere di maniera = aus dem Kopf, nicht unmittelbar nach der Natur malen. In dieser Bedeutung gewinnt der Begriff Manier jenen tadelnden Sinn der Manieriertheit, den er bis in die Gegenwart behalten hat. [...] (VON EINEM 1982, 585f.)

 

 

Goethe benutzt den Begriff also nicht mehr bzw. noch nicht so tadelnd wie die Kritiker des barocken Dichtungsverständnisses.

STRAUSS, HASS und HARRAS (1989, 657f.) merken zum Adjektiv manieriert an:

 

 

Das Adjektiv manieriert ist im 18. Jh. aus frz. maniéré ‘geziert’ (zu manière ‘Art und Weise’) gebildet worden. Die substantivische Ableitung Manieriertheit ist seit dem 19. Jh. gebräuchlich. [...] Mit manieriert charakterisiert man Angewohnheiten und Verhaltensweisen von Personen (sowie die Personen selbst), künstlerische und literarische Tätigkeiten und deren Produkte unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf den Betrachter als gekünstelt und übertrieben. Wenn ein Sprecher von Verhaltensweisen bzw. von Personen sagt, sie seien manieriert, dann unterstellt er den Personen, daß sie durch Nachahmung einer vermeintlich gefälligen Art (‘Manier’) besonders auffällige Wirkungen erzielen wollen.

 

 

Bis heute tradiert wurde die abwertende Haltung, die mit manieriert verbunden ist, wobei durch das Nebeneinander von manieriert und manieristisch die negative Wertung des letztgenannten Adjektivs noch verstärkt ist durch die „pejorative Abschattung“ (FLEISCHER 41975, 268), die Bildungen mit dem erweiterten Suffix -ist-isch teilweise innewohnt.

Zu Manierismus bzw. manieristisch bemerken STRAUSS, HASS und HARRAS (1989, 658):

 

 

Die Stilbezeichnung Manierismus [...] ist über ital. manierismo (zu maniera ‘Art und Weise, (stilistische) Manier’) und frz. manièrisme im 17. Jh. ins Deutsche gekommen, zu einer Zeit, als der bezeichnete Stil in Europa bereits in Mißkredit geraten war. Diesem Umstand ist es wohl zuzuschreiben, daß der Ausdruck Manierismus seit dem 18. Jh. zunehmend als mehr oder weniger negative Charakterisierung in Kunst- und Literaturkritik [...] verwendet wird. Die adjektivische Ableitung manieristisch ist seit dem 18. Jh. gebräuchlich.

 

 

Auch CURTIUS (51965, 277) verweist darauf, daß Manierismus zunächst ein Begriff aus der Kunstgeschichte ist. Der Begriff bezeichnet den Stil der Übergangsphase zwischen Renaissance und Barock (1520-1580),

 

 

in der sich vor allem in Italien, Frankreich und den Niederlanden - in bewußtem Gegensatz zur Forderung nach formaler Klarheit in der Renaissancekunst - eine Hinwendung zum bildnerischen oder sprachlichen Zierrat, Decorum genannt, ausprägte. Besonders in der Kunst- und Literaturkritik ist aber vom Manierismus anderer Epochen die Rede, wenn sich deren Kunstwerke durch auffälliges und reichhaltiges Decorum auszeichnen [...].

 

 

CURTIUS (51965, 277ff.) betont in seinen Ausführungen zu Manierismus besonders die Polarität zum Begriff der Klassik: Klassische Kunst betrachtet er als zur Idealität erhobene Natur, die es nur in kurzen Blütezeiten gibt. In künstlerischen Spätperioden tritt Manierismus als Entartungsform der Klassik auf. Im literarischen Bereich erfährt der Begriff gegenüber der Kunstgeschichte eine Bedeutungserweiterung als „Komplementär-Erscheinung zur Klassik aller Epochen. [...] In manieristischen Epochen [wird] der ornatus wahl- und sinnlos gehäuft“. (CURTIUS 51965, 277) „Der Manierist will die Dinge nicht normal, sondern anormal sagen. Er bevorzugt das Künstliche und Verkünstelte vor dem Natürlichen. Er will überraschen, in Erstaunen setzen, blenden.“ (CURTIUS 51965, 288)

Manierismus setzt bei Form und Inhalt an: Formaler Manierismus liegt z.B. in literarischen Werken vor, in denen ein bestimmter Buchstabe nicht vorkommt (lipogrammatisch, schon bei einem Lehrer Pindars, Lasos, Mitte 6. Jh. v. Chr.) oder aufeinanderfolgende Wörter mit demselben Buchstaben beginnen (pangrammatische Künstelei), in Figurengedichten (Druckbild) o.ä.. Solche manieristischen Erscheinungen treten z.B. in der alexandrinischen Zeit vor und in der späten Kaiserzeit nach der Römischen Klassik auf. Im Mittelalter setzt sich diese Tradition fort (mlat.), wird in die Volkssprachen übernommen und im 17. Jahrhundert wieder verstärkt eingesetzt. Inhaltlicher Manierismus bezieht sich auf den Pointenstil und die Epigramme bzw. „Sinngedichte“, die einen sinnreichen Gedanken in strenger Form gestalten.

Zur Verwendung des Begriffs Manierismus in Kunst- und Literaturkritik führen STRAUSS, HASS u. HARRAS (1989, 659) aus, man charakterisiert

 

 

typische stilistische Eigenarten von Künstlern und Schriftstellern, bzw. von deren Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Produkten als besonders auffällig und häufig wiederkehrend. Im allgemeinen wird die Auffälligkeit sich wiederholender künstlerischer Eigenarten als störend und aufdringlich empfunden, so daß Manierismus häufig negativ wertend bzw. in negativ wertenden Kontexten verwendet wird [...] und den heute in Kunst- und Literaturkritik selten gebrauchten Ausdruck Manieriertheit ersetzt. Auch die immer häufiger werdende pluralische Verwendung Manierismen [...] ist überwiegend negativ wertend bzw. in entsprechenden Kontexten anzutreffen [...].

 

 

Beyses Schreibweise [...] erscheint in dieser neuen Erzählung über ganze Passagen hinweg als unproduktive Manier. (SZ 15.11.88, FALCKE über BEYSE)

Reine Rhetorik, Stil als Manier. (ZEIT 12.8.88, DOTZAUER über REICHART)

[...] und [er] schreibt eine dichte, wenn auch gegelentlich etwas manierierte Prosa [...] (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

Dieser Autor ist, trotz einiger Manierismen, ein ganz eigenständiges [...] Talent. (FAZ 17.9.88, SCHIRRMACHER über RANSMAYR)

Maurer erweist sich als Manierist des Kitsches [...] (ZEIT 25.3.88, SCHMICKL über MAURER)

Koneffkes Prosa ist nicht frei von manieristischer Überanstrengung [...] (ZEIT 7.10.88, BRAUN über KONEFFKE)

 

[...] sie [=die Sorgfalt bei historischen Skizzen etc.] ließ uns gern über manch unnötig stilisierte Wendung hinwegsehen. (ZEIT 11.3.88, IRRO über RÜCKER)

[...] urbanes Parlando, bisweilen epigonal, preziös, witzig und bildungsgeschmückt. (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

Schade, daß hier die Selbstanrede auf [...] die gekünstelte Genitivmetapher setzt. (SZ 24.2.88, KURZ über HANNSMANN)

Diese Anlage der Erzählung mag auf den ersten Blick etwas angestrengt und gekünstelt wirken [...] (FAZ 15.10.88, JACOBS über KONEFFKE)

Wenn es also so bunt zugehen kann [...], warum dann manchmal trocken und künstlich [...]? (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

 

 

Interessanterweise findet sich das Adjektiv artistisch in positiv und auch in negativ wertenden Kontexten (s.o.): Negativ wertend in folgendem Beispiel:

 

 

Doch waren sie [=die Motive Tod und Leben, Dasein und Vergehen] nie etwa nur Anlässe artistischer Darbietung [...] (FAZ 1.10.88, UEDING über KROLOW)

 

 

Positiv wertet artistisch wie auch artifiziell in folgendem Beispiel:

 

 

Im Umgang mit Reimen [...], Formen, Anspielungen und Zitaten beweist der Autor artistische Fähigkeiten. (FAZ 4.10.88, SEGEBRECHT über WICHNER)

Seine Kunst besteht in dem Wider- und Zusammenspiel von sprachlicher Fülle und konturierender Perspektivierung; der Text wird so in hohem Maße artifiziell. (SZ 17.9.88, FISCHER über SPÄTH)

 

 

Die folgenden Belege setzen die Reihe der negativ wertenden Beispiele fort:

 

 

Es [=das Leitmotiv] klingt gespreizt. (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

Weltbetrachtung [...] wird philosophisch vertieft, verflacht aber gelegentlich zu philosophischer Gespreiztheit [...] (FAZ 28.9.88, HINCK über BEYSE)

 

[...] und [sie] reiht in einer häufig geschraubten [...] Sprache Anekdoten [...] aneinander [...] (SZ 30.11.88, KÄSSENS über BERKÉWICZ)

 

 

Anders als bei geschraubt zeigt das DUDEN-Lemma beim Adjektiv verschraubt[34], das auch negativ wertend in einer Rezension gebraucht wird, keinen Hinweis auf eine Verbindungsmöglichkeit mit Kunst und Literatur, so daß der Begriff zusammen mit dem entsprechenden Beleg als Metapher dem Kriterium Können/Ingeniosität (Anstrengung/Leichtigkeit)[35] zugeordnet wird.

 

 

Sie [=die Altklugheit] äußert sich in einer wuchtigen, elliptischen Sprache, in einem monologischen Extremismus, der dem Gestelzten nicht immer entkommt [...] (ZEIT 4.3.88, SCHMID über KURZECK)

 

Solches demonstrative Märtyrer-Bewußtsein gibt seiner Prosa einen schalen Beigeschmack von Effekthascherei und degradiert seinen [=des Autors] Furor zur Pose. (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

Aber es schlägt von jener „Fahlheit“ etwas auf die Sprache zurück. Die Kultiviertheit des Ausdrucks kann in die erlesene Sprachpose übergleiten [...] (FAZ 16.6.88, HINCK über VON SCHIRNDING)

 

Sie verharrt in den Attitüden der Lemuren. (SZ 30.11.88, KÄSSENS über BERKÉWICZ)

Die Sprachskepsis etwa eint diese Autoren, auch wenn sie anfangs nicht selten zur klischeehaften, bloß rhetorisch bekundeten Attitude wird - Söllners Zeile [Zitat] ist davon nicht frei. (FAZ 4.10.88, HIEBER über SOELLNER)

 

[...] aber diese ständigen Konjunktiv-Demonstrationen erscheinen als bloße Stil-Gebärden, die erzählerische Souveränität prätendieren wollen. (ZEIT 7.10.88, BRAND über KONEFFKE)

 

 

Wenn in den Rezensionen darauf hingewiesen werden soll, daß dem Leser des rezensierten Buches nicht nur etwas vorgemacht wird, sondern ihm in gesteigerter Weise Qualität vorgetäuscht wird, verwenden die Kritiker folgende Begriffe:

Größenwahn, Dünkel, Hochstapelei/ Hochstapler, Genie-Simulantentum, Imponiergehabe/ Imponiergeste, Den-Mund-voll-Nehmen, aufblähen (zwei Belege), angeberhaft, hochtrabend[36], dick auftragend[37], prunken/d, pompös, pathetisch[38], schwülstig[39].

Der Autor, der sich für etwas Besseres hält, diese Selbsteinschätzung jedoch nicht einlösen kann, leidet unter Größenwahn oder einem Dünkel.

 

 

Dem Größenwahn ist Ironie, die Erkenntnis voraussetzte, fremd [...] (FAZ 7.6.88, MEYHÖFER über MENASSE)

[...] das allerdings ist poetischer Dünkel der düsteren Art [...] (ZEIT 14.10.88, WINKELS über HERMANN)

 

 

Die großartige Fassade, hinter der nichts steckt, brandmarken folgende Belege:

 

 

[...] Wohl eher ein Exempel für eine neuerdings recht häufig, zumal in Debütromanen anzutreffende Form der Hochstapelei. [...] Der schreibende Hochstapler benutzt die Literatur als Steinbruch, als Zitatenschatz, den er hemmungslos plündert, um über seinen Mangel an Ideen hinwegzutäuschen. (FAZ 7.6.88, MEYHÖFER über MENASSE)

Manchmal hat der Kontrast zwischen immergleicher Ausdrucksanstrengung und der Banalität des erlesen Umschriebenen geradezu etwas von ästhetischem Genie-Simulantentum.[...] Dafür krankt der nächste Satz an Imponiergehabe. (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

[...] ohne jede Imponiergeste [...] setzt die Erzählung ein. (ZEIT 7.10.88, BAUMGART über WALTER)

Ein hervorstechendes Merkmal der Sprache in diesem Roman ist [...] ihr aufdringliches Den-Mund-voll-Nehmen [...] (SZ 13.7.88, MANTHEY über KONRAD)

Er [=der schreibende Hochstapler] nimmt Zuflucht zu den Gedanken anderer [...], um das eigene Erleben [...] zur Bedeutsamkeit aufzublähen [...] (FAZ 7.6.88, MEYHÖFER über MENASSE)

Beckers modernes Märchen ist kühl angeberhaft, aber nicht langweilig geschrieben. (SZ 16.1.88, KAISER über BECKER)

Bruchstückhaft Berichtetes, Biographisches findet sich im Wust der hochtrabenden Erkenntnisse [...] (SZ 5.10.88, HÖBEL über GOETZ)

Sie [=diese Zeilen] stehen im zweiten Gedicht des Bandes unter dem dick auftragenden Titel [...] (SZ 5.10.88, VORMWEG über FELS)

 

 

Über Ransmayrs „Letzte Welt“ streiten sich die Rezensenten: Prunkt er oder prunkt er nicht?

 

 

Ransmayr schreibt detailgenau, ohne zu prunken. (ZEIT 7.10.88, HAGE über RANSMAYR)

Vieles [...] scheint prunkendes Kunstgewerbe zu sein. [...] Es geht mir um Ransmayrs zugleich pompöse und leere, aber doch sehr sorgfältige Kunstfertigkeit. (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

 

Gewiß kann man prätentiöse, auch schwülstige Wendungen finden [...] (FAZ 30.1.88, UEDING über ECKART)[40]

 

 

Gegenüber dem positiven Wert Ernsthaftigkeit werden in den Belegen folgende negativ wertenden Begriffe angeführt: grotesk[41], lächerlich/Lächerliches, Kinderei[42], Niedliches, neckisch, Schäkerndes, kokett/ kokettieren[43].

 

 

Geradezu grotesk erscheint die dröhnende Feierlichkeit, mit der [...] (FAZ 4.10.88, GÖRTZ über FELS)

Man könnte solch einen Triumph einer entfesselten Halbbildung lächerlich nennen [...] (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

Eine Operation, die lustig und listig, aber ganz und gar nicht lächerlich wirkt. (SZ 10.2.88, KRAMBERG über SAHL)

Die Sprache aber schwankt in ihrer bläßlichen Kraftlosigkeit zwischen Niedlichem und Lächerlichem [...]. (ZEIT 9.9.88, RADDATZ über BOOCK)

Oft jedoch mißrät die Verschiebung [der Bedeutungen] zur Kinderei. (ZEIT 14.10.88, WINKELS über HERMANN)

Sarah Kirschs Sprache kippt da vom Einfachen ins Niedliche um. [...] dieses so hochdiffizile Stilmittel [=die Parataxe], dem sich die Härte und Distanz Uwe Johnsons verdankt, ist hier neckisch, weil ohne Funktion eingesetzt. Die Prosa bekommt da etwas Schäkerndes [...] (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

Seine Prosa glänzt auch hier mit Intelligenz, doch oft in Form einer nur noch koketten Aphoristik. (FAZ 28.9.88, HINCK über BEYSE)

[...] eher geschwätzig kokettiert der Erzähler mit seiner Verzweiflung an der Sprache [...] (FAZ 7.6.88, MEYHÖFER über MENASSE)

 

 

Das Ziel des Vortäuschens ist nach Ansicht der Kritiker der Effekt[44], das Effektinteresse, an­gestrebt mittels der Effekthascherei[45]. ADORNO (1964, 12) verweist im Rahmen seiner Kritik des „Jargons der Eigentlichkeit“ auf Richard Wagners Kennzeichnung des Effekts, die jeder Kritiker der folgenden Belege sicher übernehmen würde: „Auf ihn [=den Jargon] paßt Richard Wagners gegen schlechte Kunst gerichtete Definition des Effekts als Wirkung ohne Ursache.“

 

 

Also ringt er [=der Autor] um Effekte. (FAZ 1.3.88, HEINRICH-JOST über BRUN)

[...] so ruiniert er die eigene Figurenführung um des Effektes willen. (SZ 2.3.88, HÜFNER über RADDATZ)

Allzu durchsichtig sind sie auf einen scheinbar hintergründigen Effekt hin konstruiert [...] (FAZ 13.10.88, FULD über HERMANN)

[...] kurz: ich vermute, sein neuestes Erkenntnisinteresse ist vor allem ein Effektinteresse. (ZEIT 30.9.88, BAUMGART über ENZENSBERGER)

[...] gibt seiner Prosa einen schalen Beigeschmack von Effekthascherei [...] (FAZ 24.9.88, WITTSTOCK über GOETZ)

 

 

3.2.2) Metaphern und Vergleiche

 

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

(1.1) Literatur und Sehempfindung

(1.1.1) Malerei, Graphik, Bildhauerei

Aus dem Bildbereich der Malerei ist folgende Metapher entliehen, die zusätzlich mit Hörempfinden gekoppelt ist:

 

 

Dabei an keiner Stelle ein wirkliches Wagnis gegenüber konventionellem Satzbau und Wortbestand, sondern ständig nur das dicke Aufklatschen lautmalerischer Farbpatzer. (SZ 13.7.88, MANTHEY über KONRAD)

 

 

Der Rezensent rekurriert auf die Bedeutung von Patzer als ‘Fehler’ und auf das lexikalisierte dick auftragen (s.o.).

Die künstliche Erhöhung der Stilebene im rezensierten Werk überträgt der folgende Rezensent auf das Bild einer Plastik oder eines Denkmals, das auf zusätzlichen Füßen steht:

 

 

Der zitierte Satz ist kein einsamer Patzer. Immer wenn die Autorin Bedeutendes vorführen will, setzt sie es sozusagen auf geschnitzte Löwentatzen. (FAZ 16.3.88, MIEHE über SCHEIB)

 

 

Der unübliche Vergleich wird durch das Wort sozusagen signalisiert.

Auch die Schönschreibkunst, die Kalligraphie, dient als Bildbereich, der eine Stellung zwischen Schreiben und Malen bzw. Graphik einnimmt, wobei die Wertungsrichtung und der Wertungsaspekt durch die Parallelsätze verdeutlicht werden.

 

 

Vieles scheint Kalligraphie, scheint „overwritten“, scheint prunkendes Kunstgewerbe zu sein. (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

 

 

(1.1.2) Feuer (Vgl. BÖHEIM 1987, 263)

Seh- und Geruchsempfinden sind gekoppelt, wenn von Qualm die Rede ist, der dem Leser die freie Sicht und den Blick auf das Relevante nimmt.

 

 

Daß es in Blatters Roman mitunter esoterisch qualmt, ist nicht so ärgerlich wie die [...] Verschwommenheit [...] (FAZ 20.9.88, MIEHE über BLATTER)

 

 

(1.2) Literatur und Hörempfindung

Kritisiert wird mit den akustischen Metaphern und Vergleichen die allzu große oder nicht vorhandene Lautstärke, d.h. daß ein Werk nur als „laut“ empfunden wird und nichts dahintersteckt oder daß es von vorneherein „stumm“ bleibt.

Der Bildbereich der folgenden Metapher ist das Klavierspiel, bei dem durch Einsatz des (rechten) Pedals die Töne lauter, aber auch verschwommener werden. Möglich aber eher unwahrscheinlich ist auch das Orgelspiel mit den tiefen Pedaltönen als Bildbereich.

 

 

Warum werden diese Schlauheiten aber fortlaufend mit so viel Pedal gespielt? Etwa, weil irgend etwas übertönt werden muß? (ZEIT 30.9.88, BAUMGART über ENZENSBERGER)

[...] verbales Getöse, kehlige Kraftmeiereien [...] (FAZ 4.10.88, GÖRTZ über FELS)

 

 

Auf Getöse[46]  trifft auch wiederum FLEISCHERs (41975, 186) Beobachtung der pejorativen Expressivität des diskontinuierlichen Morphems Ge-e zu, die vor allem an das auslautende -e gebunden ist.

 

Wird ein Plädoyer für das sanfte Gesetz der Lebensbejahung in dröhnenden Worten gehalten, so provoziert dieser Widerspruch die Frage, ob denn der Autor seine eigene Forderung überhaupt verstanden hat. (FAZ 20.9.88, MIEHE über BLATTER)

Geradezu grotesk erscheint die dröhnende Feierlichkeit, mit der uns ein Zyklus von Gelegenheitsgesängen auf die Stadt Wien [...] über den Zustand der Stammtische in Waldheims Österreich aufzuklären gedenkt [...] (FAZ 4.10.88, GÖRTZ über FELS)

 

Doch produzieren die belebenden Phantasien durch allzu angestrengte Vergleiche häufig auch recht schrille Bilder. (SZ 14.9.88, LEDANFF über SCHERTENLEIB)

Zu viel, zu laut, zu ungenau [...] (SZ 13.7.88, MANTHEY über KONRAD)

 

Beckers „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ wäre ein taubes Plädoyer, wenn es nicht so viel Lebensstoff [...] enthielte [...] (FAZ 22.10.88, HARTUNG über BECKER)

[...] die schlechteren (manchmal ganz fahrigen, tonlosen) [Verse] (ZEIT 5.8.88, VON BECKER über SCHMIDT)

 

 

(1.3) Literatur und Geschmacksempfindung

Im Bereich der kulinarischen Metaphern stellen zwei Rezensenten positiv und negativ Wertendes einander gegenüber; darauf wurde schon in Teil 2, Kap. 3.1.2 verwiesen. Beide Belege seien nur nochmals abgedruckt:

 

 

Ein guter, schöner und wahrer Apfel möchte auch dieses Gedicht sein. Aber kennen Sie das, wenn etwas Hartes und Körniges bei plötzlicher Hitze zerplatzt und eine milchige Masse freisetzt, die ebenso weich wie geschmacksneutral ist? Das nennt man Popcorn, Damen und Herren. (ZEIT 25.3.88, KILB über HAHN)

Gegen dieses von Gerd-Peter Eigner vor drei Jahren ausgeschenkte hochprozentige Sprachelixier ist das Nachfolgeprodukt, ist „Mitten entzwei“ wohl eher ein Longdrink. (ZEIT 19.8.88, HORSTMANN über EIGNER)

 

 

Eine negativ wertende Getränke-Metapher benutzt auch der folgende Rezensent, um das Vordergründige eines Romans zu kennzeichnen.

 

 

Der Roman-Cocktail, mit Krimi- und Gesellschaftssatire-Säften aufgepeppt, mundet nicht [...] (ZEIT 25.3.88, KLIER über SCHOLTEN)

 

 

 

(1.4) Literatur und Geruchsempfindung

Das Aufgesetzte und Geschönte an Ulla Hahns Gedichten kennzeichnet der Kritiker Drews mit der olfaktorischen Metapher des Parfums.

 

 

Doch eigentlich gibt es gar nicht so viel Grund, über diese parfümierten Verse und ihren Erfolg sich zu grämen. (SZ 15.6.88, DREWS über HAHN)

 

 

(2) Eigennamen

Auf die negativ wertende Genitivmetapher Thomas Gottschalk der Literatur wurde schon mehrfach hingewiesen.

 

 

Mit ihnen [=Erich Kästners „Fabian“, Hans Scholz] verglichen ist Thorsten Becker einstweilen eher eine Art Thomas Gottschalk der Literatur. (SZ 16.1.88, KAISER über BECKER)

 

 

Im folgenden Beleg nimmt der Kritiker Kilb für Ulla Hahn als Vergleichsbasis drei Schriftsteller, die mit ihrer z.T. zweitrangigen Stellung innerhalb der Literaturgeschichte die negative Wertung klar darlegen.

 

 

[Zitat] Verse, die Ulla Hahn einen Platz in der literarischen Tradition irgendwo zwischen Paul Heyse, Emanuel Geibel und Friederike Kempner sichern. (ZEIT 25.3.88, KILB über HAHN)

 

 

Der erste der genannten Schriftsteller ist Paul Heyse (1830-1914), ein Mitglied des Münchner Dichterkreises, der zwar 1910 den Nobelpreis für Literatur erhielt, dennoch eher als Epigone und Verfasser gefälliger Literatur gilt, für den die klassisch-romantische Bildungstradition insofern bedeutsam war, als er einen Hang zu Formschönheit und zu erhabenen Gestalten hatte. Der zweitgenannte Emanuel Geibel (1815-1884), ebenfalls Mitglied des Münchner Dichterkreises mit einer Neigung zur romantisierenden Idealisierung der deutschen Geschichte, zählt als national-konservativer, klassizistischer Autor von Gedichten wie „Der Mai ist gekommen“ und „Wer recht in Freuden wandern will“ nicht zur ersten Garde deutscher Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Kein Kompliment ist es darüber hinaus für Ulla Hahn, in einem Atemzug mit Friederike Kempner (1836-1904) genannt zu werden, die ernstgemeinte, aber unfreiwillig komisch wirkende Gedichte schrieb.

Nicht mit Schriftstellern, sondern mit der historischen Figur Marie-Antoinettes, deren Name für gesuchte, tändelnde Rokoko-Schäferidylle steht, wird Sarah Kirsch verglichen. Das Aufgesetzte ihres Schreibstils wird durch den Kontrast des aus der französischen Geschichte bekannten Namens mit dem unbedeutenden Ort in der deutschen Provinz noch betont.

 

 

[...] dann ärgere ich mich; weil sich eine leise Dichterin, die Worte schweben lassen kann, zu einer Marie-Antoinette aus Oldesloe macht. (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

 

 

(3) Andere Textsorten

Mit dem (bürgerlichen) Trauerspiel bringen Rezensenten einen Text insofern in Zusammenhang, als das tragische Ende der Gattung Trauerspiel stellvertretend für den Mißerfolg eines Autors steht und somit für die negative Wertung sorgt. Daraus resultiert die umgangssprachliche Bezeichnung „Trauerspiel“ für etwas Mißlungenes. Im ersten Beispiel verstärkt das Präfixoid klein- vor dem Adjektiv bürgerlich die negative Wertung, zumal von einer beabsichtigten Satire die Rede ist.

 

 

Eine Satire? Ich glaube eher ein kleinbürgerliches Trauerspiel. (ZEIT 25.3.88, LÜDKE über KANT)

Günter Grass am Ganges: das ist vor allem ein stilistisches Trauerspiel. (ZEIT 26.8.88, HAGE über GRASS)

 

 

Abwertend für ernsthafte Literatur, der oft ein gewisser Leidensdruck abverlangt wird, ist ein Vergleich mit einer Operette[47], wobei die Nähe zur Wertung Kitsch offenkundig ist.

 

 

[Überschrift] Operetten-Heiterkeit [Text...] Operettenqualität der dazugehörigen Wirklichkeit [...] (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

 

 

Abwertend bezüglich des Niveaus sind Vergleiche mit dem Groschenroman, mit Comics wie Mickey-Mouse, mit Kinoreklame und mit Kolportage[48].

 

 

Die allwissende Erzählerin im Hintergrund drängt sich nach vorn, psychologisiert und moralisiert, als habe sie den Comic strip [=Vorbild ihres Buches] mit dem Groschenroman verwechselt. (FAZ 2.3.88, HEINRICH-JOST über SCHOLTEN)

Denn dieser „moderne“ Möchtegernroman ist allerhöchstens postmoderne Mickey-Mouse-Sprechblasen-Rhetorik. (ZEIT 11.3.88, MODICK über DIEDERICHSEN)

Doch daß der Familienkrach zunehmend aufsteigt in geradezu metaphysische Dimensionen und pseudoexistentialistische Phraseologie, wie man sie aus Kinoreklamen kennt, hat die an sich bescheidene Anlage der Novelle nicht verdient. (ZEIT 7.10.88, STEINERT über SAEGER)

Und so kommt es in der „Regenzeit“ zu einem kolportagehaften Schluß [...] (FAZ 13.8.88, BRODE über HOFMANN)

 

 

Wenn mit journalistischen Textsorten Vergleiche angestellt werden, ist die Aussage der Rezension meist ebenfalls die, daß eher oberflächlich gearbeitet wurde.

 

 

Statt dessen stellt er im hohen Ton eine Art Stimmung her, die Ovid, Cotta und die Leute von Tomi nicht wirklich näherrückt, gleichwohl er das Welthistorische oder modellhaft Allgemeine nur als beliebige Zitate vorführt, wie in einem gut gemachten Feature. (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

 

 

Ebenso wird durch folgenden Beleg ersichtlich, welche Textsorten für Joachim Kaiser weniger wert sind als „wahre“ Literatur: Tagebuch, Feuilleton und Unterhaltungsliteratur:

 

 

[...] da sollte den Leser die Frage, ob dergleichen nicht doch nur besseres Tagebuch, besseres Feuilleton, bessere Unterhaltung sei, wirklich nicht beschweren. (SZ 10.8.88, KAISER über NADOLNY)

 

 

Die negative Wertung durch das Substantiv Feuilleton bestätigen STRAUSS, HASS und HARRAS (1989, 624):

 

 

Das Substantiv Feuilleton ist zu Beginn des 19. Jhs. aus frz. feuilleton entlehnt, das um 1800 zur Bezeichnung einer journalistischen Textsorte geprägt wurde. [...] Mit Feuilleton bezeichnet man denjenigen Teil einer Zeitung oder Zeitschrift, in dem in kommentierend-beurteilender Weise in erster Linie künstlerische Ereignisse und Gegenstände, aber auch andere Themen von aktuellem, öffentlichem Interesse besprochen werden. Charakteristisch für das Feuilleton ist ein persönlicher, eher am Literarischen orientierter Schreibstil. Damit nimmt das Feuilleton eine Zwischenstellung ein zwischen tagespolitischer Aktualität und darüber hinausreichendem Aussage- und Gestaltungswert. Da das Feuilleton nicht - wie andere journalistische Texte, z.B. Nachrichten, Berichte oder Reportagen - von umrissenen Themen und einigermaßen akzeptierten stilistischen Normen bestimmt wird, unterliegt es sehr viel stärker einer Kritik, in der unterschiedliche Beurteilungsgrundlagen zum Ausdruck kommen: einmal wird das Feuilleton gegen den politischen Teil einer Zeitung abgegrenzt und als weniger ernsthaft und wichtig eingestuft, zum andern wird es als journalistisches Produkt im Unterschied zur Literatur [...] als eher oberflächliches und flüchtiges Amüsement eingeschätzt. Daraus erklärt sich auch, daß der Ausdruck Feuilleton häufig in eher abschätzigen Zusammenhängen verwendet wird [...].

 

(4) Andere Kunstepoche

Ein Vergleich mit einem Stilelement der Lyrik der fünfziger Jahre hebt hervor, daß der dichterische Versuch sehr aufgesetzt wirkt.

 

 

Das [=Zitat eines Gedichtteils] ist natürlich pseudo-konkret und fast so peinlich, wie eine Genitiv-Metapher aus der Lyrik der fünfziger Jahre meist ist. (SZ 29.5.88, DREWS über ALLEMANN)

 

 

Wenn eine Lyriksammlung mit Rokoko in Verbindung gebracht wird, so gereicht ihr das mit diesem Begriff verbundene Spielerisch-Graziöse, Tändelnde, Galante nicht unbedingt zum Vorteil, da der Vorwurf des Oberflächlichen, der mangelnden Substanz mitschwingt. Aussteiger-Rokoko impliziert darüber hinaus mangelnde Ernsthaftigkeit und Flucht in die Idylle.

 

 

Was für ein wunderliches Buch! Durchsichtig und uneinsehbar zugleich, gläsern zart wie die schönsten Gedichte der Sarah Kirsch und auch rokokohaft verzärtelt. [...] Da gibt es einen Ton des Aussteiger-Rokoko, der mich empfindlich stört. (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

 

 

(5) Theater, Spiel1

Schon unter den positiv wertenden Belegen wurde auf den Kontrast von Charakter und Charge[49]  mit der negativen Wertung bezüglich des Oberflächlichen, Unechten hingewiesen.

 

 

Im nachfolgenden „Schwanenhaus“ reift die Charge allmählich zum Charakter [...] (ZEIT 16.9.88, HAGE über WALSER)

Ein „Rittmeister Greiffenstein“ und dessen degenerierter Sproß „Botho“ sind höchstenfalls Knallchargen [...] (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

 

 

Ebenfalls das nur Vorgetäuschte, Unechte beinhaltet ein Vergleich mit dem Begriff Kulisse.

 

 

Auch die Gegenkulisse bleibt in diesem Buch Kulisse. (ZEIT 9.9.88, HAGE über ZELLER)

 

 

Ähnlich wie Kulisse werten Begiffe wie Marionette, Pappkamerad.

 

[...] allesamt schlecht synchronisierte Marionetten [...] (FAZ 17.9.88, GÖRTZ über WALSER)

Personen werden wie Marionetten ins Bild geschoben [...] (ZEIT 4.3.88, PELTZER über BRAUN)

Die beiden [Hauptfiguren einer Erzählung] [...] bleiben Pappkameraden. (SZ 6.7.88, HÖBEL über DOBLER)

 

 

Was der Rezensent mit dem kontextuell negativ wertenden Adjektiv puppig[50] meint, erklärt er selbst:

 

 

Das gibt selbst Ulla Hahns besseren Gedichten etwas Puppiges. Alles ist so heil, so nett und heimelig in der Dichterinnenstube - und so zeitlos fad.. (ZEIT 25.3.88, KILB über HAHN)

 

 

(6) Unbelebte Natur

Im Bild eines Gewässers bleibt die Genitivmetapher Untiefe des Kalauers und wertet damit wie die verblaßten Metaphern seicht und flach negativ bezüglich der Substanz des Werkes.

 

 

[...] und manchmal drohen die Untiefen des Kalauers und der Albernheit. (FAZ 8.6.88, HINCK über BIELER)

 

 

(7) Bestimmte Altersgruppen

Künstlerische Reife oder Abgeklärtheit können einem Werk nicht bestätigt werden, wenn es mit dem überschwenglichen Stil Pubertierender in Verbindung gebracht wird.

 

 

Pubertierende pflegen so zu schreiben, berauscht von der Lektüre großer Werke und dem Klang der eigenen Worte. (FAZ 7.6.88, MEYHÖFER über MENASSE)

 

 

(8) Sport

Der Vorwurf der Kraftmeierei[51] hebt das Vordergründige, Angeberhafte hervor, das nicht unbedingt auf echter Kraft basiert.

 

 

[Zitate]: verbales Getöse, kehlige Kraftmeiereien [...] (FAZ 4.10.88, GÖRTZ über FELS)

 

 

 

(9) Handwerk speziell: Friseur

Das Gemachte, Vordergründige bringt der Vergleich mit modisch frisiertem Haar zum Ausdruck. Frisiert bedeutet, daß aus dem Haar manchmal mehr gemacht wird, als eigentlich vorhanden ist (daher auch die Übertragung auf das Auto, das ebenfalls frisiert werden kann).

 

 

Statt dessen werden die Geschichten mit Schablonen erzählt, das Ambiente modisch frisiert und assortiert [...] (SZ 9.1.88, MOSER über PELTZER)

 

 

(10) Stoff und Bekleidung

Etwas Halbseidenes stellt keinen echten Wert dar, täuscht höchstens etwas vor. Der Rezensent verknüpft den Begriff des Stoffes in der Bedeutung ‘Sujet eines literarischen Werkes’ mit dem Bildbereich ‘Stoff und Bekleidung’ und delexikalisiert dadurch auch das Adjektiv halbseiden[52].

 

 

[...] Marionetten, denen Walser [...] anstelle tragfähiger Konfliktstoffe halbseidene Konfektionsware übergeworfen hat [...] (FAZ 17.9.88, GÖRTZ über WALSER).

 

 

Im folgenden Beleg vertritt der Rezensent die Ansicht, daß das rezensierte Werk Substanz aufweisen könne und es daher nicht nötig sei, mit dem Faltenwurf eines Kostüms das Werk kostbar zu machen, um zu verbergen, daß es nichts enthält.

 

 

Das ist kein geborgtes Märchen, das ist ein ganz eigener Ton, voll Rätsel und Geheimnis, ohne Kostümfaltenwurf, nicht kostbar gemacht durch fremden Schmuck, sondern ernst und echt und streng [...] (ZEIT 12.8.88, RADDATZ über KIRSCH)

 

 

(11) Material

Die Art des Materials, das für einen Vergleich oder eine Metapher gewählt wird, zeigt durch den Wert und die Beständigkeit, die es aufweist, die Bewertungsrichtung an. War es im positiv wertenden Bereich Gold, so sind es hier im negativ wertenden Bereich Seifenschaum, Pappmaché und Gips, schnell vergängliche und recht wertlose Materialien.

 

Hier kommt ein bedeutungsschwangerer Satz schließlich mit einer Seifenblase nieder. (FAZ 28.9.88, HINCK über BEYSE)

[...] Neugier, mit welcher Killerphrase Ror Wolf nun diesmal seine Pappmaché-Geschichte abbrechen läßt. (FAZ 8.1.88, UEDING über WOLF)

Gewiß, wo Krolow sich verpflichtet fühlt, seinen Nachtwachen auch muntere Losungen für den Tag gegenüberzustellen (was zum Glück selten geschieht), wird seine Rede hohl und gipsern und wird wenig Beständigkeit zeigen. (FAZ 1.10.88, UEDING über KROLOW)

 

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[1] Vgl. RUTSCHKY (1988) und auch GREINER (1985, 51): „Maßgeblich für die Rezension ist nicht die Qualität des Romans, sondern seine Rezensierbarkeit [...]“. Wie als Bestätigung dieser These bemängelt Joachim KAISER an LETTAUs Roman „Eine Frage der Himmelsrichtungen“ dessen Unangreifbarkeit: Souverän durchkonstruierte Texte wie diejenigen Lettaus sind nahezu unangreifbar. (SZ 30.3.88)

[2] Vgl. Teil 2, Kap. 9: Gefühl

[3] Vgl. Teil 2, Kap. 7: Intellekt

[4] Vgl. Teil 1, Kap. 3

[5] Fremdwörter-DUDEN: „1. echt, naturgemäß, rein, unverfälscht [...]“

[6] DUDEN: „<bildungsspr., veraltet>: in der wahren, vollen Bedeutung des betreffenden Wortes; echt, wirklich.“

[7] DUDEN: „[...] 2.b) durch eine Fülle von etw. gekennzeichnet [...]“

[8] Hans SCHOLZ, geb. 20.2.1911 in Berlin, Autor des Romans „Am grünen Strand der Spree“ (1955), einem „der ersten Versuche einer literarischen Chronik der deutschen Kriegs- und Nachkriegszeit“. (KINDLER 1988, Bd. 15, 11)

[9] Vgl. Teil 2, Kap. 1

[10] Fremdwörter-DUDEN: „[...] 5. Nebenrolle mit meist einseitig gezeichnetem Charakter (Theat.). [...]“

[11] WILPERT (61979, 398): „[...] 3. schlechthin fehlerhafte Verwendung von dem Sinn nicht genau entsprechenden Ausdrücken.“

[12] Vgl. die Bemerkungen zu den Begriffen Kunstgewerbe/kunstgewerblich und Kunsthandwerk/ kunsthandwerklich in Teil 2, Kap. 2

[13] Vgl. Teil 2, Kap. 1

[14] DUDEN: solide: „1. in bezug auf das Material so beschaffen, daß es fest, massiv, haltbar, gediegen ist [aber ohne auffällige Extravaganzen o.ä.] [...] 2. gut fundiert [...]“

[15] Vgl. Teil 2, Kap. 1: aurea dicta

[16] DUDEN: „<bildungsspr.>: sich durch Äußerungen, bestimmte Mittel der Darstellung den Anschein von Wichtigkeit, Bedeutung gebend; durch betont gewichtiges Auftreten o.ä. Eindruck machend [u. auch machen wollend]“ STRAUSS, HASS, HARRAS (1989, 697) geben folgende Erläuterung: „Das Adjektiv prätentiös ist im 18. Jh. aus frz. prétentieux (zum Verb prétendre ‘behaupten, vorgeben, so tun als ob; etwas anstreben’) entlehnt worden. Häufiger als das einfache wird das präfigierte Adjektiv unprätentiös verwendet. Mit prätentiös charakterisiert man Angewohnheiten, Verhaltensweisen, - häufig künstlerische - Tätigkeiten von Personen (sowie die Personen selbst) und deren Produkte als bewußt auf besondere äußerliche Wirkungen bedacht. Den handelnden Personen wird unterstellt, daß sie den Eindruck erwecken wollen, besonders hohe Ansprüche zu erfüllen, ohne daß diese - aus der Sicht des Sprechers - auch wirklich eingehalten werden könnten. Statt prätentiös werden auch die Ausdrücke manieriert und forciert verwendet. [...]“

[17] Das Präfix pseudo- hat als Negationsmorphem (BÖHEIM 1987, 192) die Bedeutung ‘nicht, aber dem Anschein nach’, d.h. es enthält eine negierende und zusätzlich modifizierende Komponente (KÜHNHOLD u.a. 1978, 188). FLEISCHER (41975, 227) gibt als Bedeutung ‘unecht, falsch’ an, und der DUDEN faßt zusammen: „[...] 2. <bildungsspr.> Best. in Zus. mit Adj. u. Subst., das das nur scheinbare, nicht wirkliche, oft vorgetäuschte Vorhandensein des im Grundwort Genannten bezeichnet [...]“

[18] Die kontextuell negativ wertende Erstkonstituente schein- hat eine dem Präfix pseudo- ähnliche Bedeutung (‘vorgetäuscht, nicht wirklich’) und dient reihenbildend zum Ausdruck der abstufenden Negation „wie pseudo- im Dienst der Sprecherwertung, daß der Anschein des Gegenteils besteht“ (KÜHNHOLD u.a. 1978, 189).

[19] Möchtegern- kann zusammen mit Adjektiv oder Substantiv als Determinativkompositum betrachtet werden, wobei die erste Hälfte alleine nur getrennt existiert (vgl. FLEISCHER 41975, 98). Man könnte die Wortbildung auch analog zu Bausch-und-Bogen-Urteile als Zusammenrückung auffassen. DUDEN: „[...] ugs. spött.: kein richtiger ..., sondern nur ein Möchtegern [...]“

[20] Vgl. Teil 2, Kap. 1 KLOCKOW (1980, 134) zeigt, daß durch Anführungszeichen eine implizite Negierung erreicht werden kann.

[21] „Der schreiber benutzt ein prädikat, um im rahmen einer definiten kennzeichnung ein referenzobjekt zu identifizieren, und gibt gleichzeitig per AZ [=Anführungszeichen] zu erkennen, daß er dieses prädikat für (zumindest partiell) unzutreffend hält.“ (KLOCKOW 1980, 134) Es liegt also eine implizite Negation vor.

[22] DUDEN: oberflächlich: „[...] 2.a) nicht gründlich, flüchtig [...] b) am Äußeren haftend; ohne geistig-seelische Tiefe [...]“

[23] Ähnlich wie bei schwach/schwächlich (Teil 2, Kap. 7) gilt auch hier, daß derartige Derivate „eine gewisse Abschwächung aus[drücken], das Objekt, auf das sie sich beziehen, hat die angegebene Eigenschaft nicht in vollem Maße.“ (FLEISCHER 1975, 272)

[24] Fremdwörter-DUDEN: parlieren „a) reden, plaudern, sich miteinander unterhalten, leichte Konversation machen [...]“. Das Attribut leichte Konversation bewirkt die negative Einschätzung des künstlerischen Werts.

[25] Fremdwörter-DUDEN: Phrase: „abgegriffene, leere Redensart; Geschwätz“. Vgl. auch der abwertende Gebrauch von Phrase bei Karl Kraus.

[26] Fremdwörter-DUDEN: „1 [...] b) <abwertend> Künstelei, Mache [...]“, DUDEN: „1 [...] c)<bildungsspr. abwertend> Künstelei, Manieriertheit [...]“

[27] Fremdwörter-DUDEN: „<abwertend> gekünstelt, unnatürlich“, DUDEN: „<bildungsspr. abwertend>: in einer bestimmten Manier [...] erstarrt; gekünstelt [...]“

[28] DUDEN: „<bildungsspr.>: geziert, gekünstelt, unnatürlich“

[29] DUDEN: „[eigtl. 2. Part. von veraltet künsteln = (kleine) Künste gebrauchen [...]] <abwertend>: in der Art wie es ist, nicht echt, nicht natürlich [wirkend] [...]“

[30] DUDEN: „<ugs. abwertend>: nicht natürlich u. schlicht; gekünstelt u. schwülstig wirkend“

[31] DUDEN: „(auf eine bestimmte Wirkung abzielende) Körperhaltung, Stellung [die den Eindruck des Gewollten macht]“

[32] DUDEN: „<bildungsspr.>: 1. bewußt eingenommene [gekünstelte] körperliche Haltung, affektiert wirkende Geste“

[33] Vgl. Teil 1, Kap. 4

[34] DUDEN: verschrauben: „mit einer od. mehreren Schrauben befestigen“

[35] Teil 2, Kap. 4.2.2. (8)

[36] DUDEN: <abwertend>: (von schriftlichen od. mündlichen Äußerungen o.ä.) mit einem hohlen Pathos; übertrieben u. gespreizt in Ausdruck u. Inhalt [...]“

[37] DUDEN. „(ugs. abwertend; übertreiben)[...]“; dick: „[...] e) <übertr., salopp> über die Maßen groß, gewichtig [...]“

[38] Fremdwörter-DUDEN: „[...] 2. (abwertend) übertrieben gefühlvoll, empfindungsvoll, salbungsvoll, affektiert.“

[39] DUDEN: „<abwertend>: durch Schwulst (1) gekennzeichnet, überladen [...]“ Schwulst: <abwertend>: 1. etw., was zur prachtvollen Gestaltung, zur Verschönerung, zur Ausschmückung von etw. dienen soll, was aber als bombastisch, übertrieben aufwendig u. daher als unschön, abstoßend, geschmacklos empfunden wird [...]“

[40] Vgl. Teil 1, Kap. 4: Besonders die Epoche des Barock stand lange Zeit unter dem Verdikt des Schwulstes, bevor sie adäquat eingeschätzt und erforscht wurde.

[41] Fremdwörter-DUDEN: „a) durch eine Übersteigerung od. Verzerrung bestimmte Ordnungen umkehrend u. absonderlich, phantastisch wirkend; b) absurd, lächerlich [...]“

[42] DUDEN: „albernes, kindisches Benehmen, kindischer Spaß [...]“; FLEISCHER (41975, 135) bemerkt zum Suffix -erei, es handle sich bei derartigen Ableitungen um pejorative Bezeichnungen.

[43] Fremdwörter-DUDEN: kokett: „[von eitel-selbstgefälligem Wesen u.] bestrebt, die Aufmerksamkeit anderer zu erregen u. ihnen zu gefallen.“ kokettieren: „[...] 2. mit etw. nur spielen, sich nicht wirklich auf etw. einlassen. 3. auf etw. im Zusammenhang mit der eigenen Person hinweisen, um sich damit interessant zu machen, eine best. Reaktion zu erreichen.“

[44] DUDEN: „[...] 2. etw. was auf Grund der Anwendung eines Verfahrens, einer Technik, eines Tricks [über­raschend u.] beeindruckend wirken soll [...]“

[45] DUDEN: „<abwertend> 1. <o. Pl.> übertriebenes Bedachtsein, Angelegtsein auf Effekte [...]“. Auch hier gilt FLEISCHERs (41975, 135) Feststellung, es handle sich bei den Ableitungen mit dem Suffix -erei um pejorative Bezeichungen.

[46] DUDEN: „tosendes Geräusch, tosender Lärm“

[47] Fremdwörter-DUDEN: „a) [...] Gattung von leichten, unterhaltenden musikalischen Bühnenwerken mit gesprochenen Dialogen, [strophenliedartigen] Soli, Ensembles, Chören u. Balletteinlagen [...]“

[48] Fremdwörter-DUDEN: „1. literarisch minderwertiger, auf billige Wirkung abzielender Bericht [...]“

[49] Fremdwörter-DUDEN: „[...] 5. Nebenrolle mit meist einseitig gezeichnetem Charakter (Theat.). [...]“

[50] Nach ORTNER (1985, 266) hat das Suffix -ig nur eine schwache Signalwirkung für einen Vergleich, ebenso wie -haft; vgl. BÖHEIM (1987, 218) und DUDEN (1984, 498).

[51] DUDEN: „(ugs. abwertend): Protzen mit der Körperkraft“

[52] DUDEN: „<Adj.> 1. aus Halbseide [...] 2. [...] b) [in aufdringlicher, geschmackloser Weise schick, teuer aufgemacht u. dabei] unseriös; anrüchig, zwielichtig [...]“