6) SPANNUNG UND UNTERHALTUNG

 

 

Das Kriterium, das die gehobene Literatur gerade in Deutschland häufig verpönt,[1] das aber dennoch - wie die Belege zeigen - oft Anwendung findet und zu positiven wie negativen Bewertungen führt, ist das der SPANNUNG bzw. der UNTERHALTUNG. Denn nicht zuletzt durch die englische und amerikanische Literatur wurde deutlich, daß das hohe Niveau von Literatur nicht einhergehen muß mit langweiliger Gelehrsamkeit.

CURTIUS (51965, 471) leitet die Anschauung von Dichtung als Unterhaltung von den Theo-retikern und Dichtern des alten Griechenland ab. PLATON (Lysis 214a) betrachtet die Dich-tung zwar unter ihrem volkserzieherischen Wert und die Dichter als „Väter der Weisheit und Führer“, doch die Alexandriner vertreten eine ästhetisch-hedonistische Auffassung der Poesie: Nach ERATOSTHENES (275-195) sei es die Absicht jedes wahren Dichters, seine Hörer zu unterhalten. Das Kriterium der Unterhaltung läßt sich auch in der traditionellen Rhetorik mit ihrem Ziel des delectare ausmachen, z.B. in HORAZ’ klassischer Formel: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda, et idonea dicere vitae.“ (Epist. II 1, I 18ff.) Hier hat Horaz eine ältere griechische Tradition des 4. Jhs. v. Chr. übernommen. Ebenso wie bei Eratosthenes findet sich bei QUINTILIAN für die Poesie die Angabe eines rein hedonistischen Zieles, solam voluptatem, während er als Ziele der Rhetorik docere, movere und delectare nennt. Auch spätere Hofdichter wollen mit ihrer Dichtung in erster Linie gefallen. Dieses Ziel findet sich im Barock mit dem positiv wertenden Attribut lustig und in der Aufklärung modifiziert im Ziel der sinnvollen Unterhaltung durch Literatur wieder. Am Beispiel des Titelblatts der Erstausgabe zu GRIMMELSHAUSENs „Simplicissimus“ (1669), dessen ausführlicher Titel mit den Worten „Überauß lustig / und maenniglich nützlich zu lesen“ schließt, läßt sich HECKMANNs (1986, 16) Behauptung belegen: „Die Versicherung, daß ein Buch lustig sei, gehörte zu den gängigen Werbesprüchen der Barockromane.“[2]

Klassische und romantische Positionen vertreten kaum die Auffassung, Literatur solle spannend und unterhaltend sein. Generell ist in Epochen nach der Aufklärung durchaus eine Tendenz weg vom Kriterium der UNTERHALTUNG hin zum Erhabenen, Nachdenklichen zu beobachten.

 

 

Wir Deutsche haben uns von jeher sehr schwer getan, im Erhabenen, Poetischen auch ein Vergnügen zu sehen. Mit ernstem Gesicht und einer geradezu körperlichen Feierlichkeit pflegen wir Umgang mit der Dichtkunst, selbst dann, wenn sie Vergnügen schenkt, was ja vorkommen soll. Man treibt eben keine Scherze mit dem Erhabenen. [...] die deutsche Literatur, die alles tut, um beim Leser nur kein Vergnügen aufkommen zu lassen. (HECKMANN 1986, 11)

 

 

In dieser pauschalen Form stimmt - wie die positiv wertenden Belege dieses Kapitels zeigen - HECKMANNS Einschätzung ebensowenig wie GREINERs (1985, 52) Urteil, die Kritiker neigten zu der Ansicht, Langeweile müsse ergründet werden, ein spannender Roman wecke Argwohn,[3] doch überrascht schon, wie positiv problembeladene Werke beurteilt werden (vgl. Teil 2, Kap. 8: GEFÜHL). Sicher kann man ZIMMER (1986, 141) zustimmen, der bei dem Urteil spannend eher Assoziationen des betreffenden Kritikers statt einer Analyse der Ursachen auf der Basis einer Theorie erwartet. Ähnlich urteilt MAYER (1971, 52), wenn er für die Zeit nach dem Zerfall der Gruppe 47 feststellt: „Immer noch [...] wurde die Abonnentenschaft der Theater und Tageszeitungen gleichgesetzt mit einer Öffentlichkeit, welcher ein Fachmann anvertraute, er habe sich ‘gelangweilt’ oder unterhalten.“

 

 

6.1) Positiv wertend

 

6.1.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Eine positive Wertung bezüglich des Unterhaltungswertes bzw. der Leben-digkeit von Literatur stellen Wörter dar wie: unterhalten, unterhaltend, Unterhaltung, unterhaltsam (drei Belege); unbändiges literarisches Temperament; erquickend, frisch, Frische, erfrischend (vier Belege), herzerfrischend, Trivialität[4] (!); belebend, lebendig[5], Lebendigkeit (zwei Belege), Vitalität (zwei Belege), Schwung, Tempo, Rasse[6]; abwechslungsreich, turbulent, flott (zwei Belege), mitreißen.

 

 

[Die Leser] fühlen sich von ihm [=dem Autor], auch das eine Provokation des gestählten Feuilletonisten, im besten Sinne unterhalten. (SZ 9.11.88, BÖHMER über BLATTER)

 

 

Der Rezensent thematisiert in seiner Rezension, daß UNTERHALTUNG noch kein anerkannter Wert im Feuilleton ist.

 

 

Ein schönes, unterhaltendes, politisches Erinnerungsbuch [...] (SZ 18.5.88, KATZ über SCHWEINITZ)

Bei seiner Lektüre ist es dem Leser nicht möglich, die Geschichten - obwohl sie immer konkret bleiben - auf Eindeutiges zu reduzieren: Mehr an Unterhaltung kann ein Roman kaum bieten. (SZ 17.9.88, FISCHER über SPÄTH)

[...] amüsant und unterhaltsam [...] (SZ 13.7.88, STADLER über AMANSHAUSER)

Sondern hier äußert sich ein unbändiges literarisches Temperament, das sich von der [...] Vielfalt des Lebens faszinieren läßt. (FAZ 10.9.88, JACOBS über SPÄTH)

Aber dieser Erzähler besitzt [...] eine erquickend frische Formulierungsgabe. (FAZ 2.12.88, WEINZIERL über MÖCHEL)

Seine [=des Autors] Sprache hat Farbe und Frische. (SZ 8.10.88, REINHARDT über ROTHMANN)

Wie erfrischend dagegen ist die Lektüre der Gedichte des Erzählers Fritz Rudolf Fries. (FAZ 4.11.88, HARTUNG über FRIES)

Die Geschichten reichen vom erschreckend eindringlichen Bericht [...] bis zur herzerfrischenden Trivialität diverser Liebesabenteuer. (ZEIT 25.3.88, WEISS über KIESERITZKY)

 

 

Trivialität ist im vorausgehenden Beispiel - im Gegensatz zur lexikalischen Bedeutung - im Rahmen des Aspekts UNTERHALTUNG positiv wertend verwendet; dies belegt die Mög-lichkeit der okkasionellen gegenüber der usuellen Bedeutung, die SCHIPPAN (21975, 98) gerade für Texte der Presse bzw. Belletristik feststellt. Wörter werden auf eine Art und Weise verwendet, die von der üblichen Verwendung des Wortes abweichen. HANNAPPEL/ MELENK (1979, 215) führen diese Umwertung als Beibehaltung der Extension und Änderung der Wertung im Gegensatz zum Fall einer Beibehaltung der Wertung und Veränderung der Extension an, wie es bei einer Ausweitung bzw. Einschränkung eines negativen Begriffs auf andere Objekte der Fall wäre.

 

 

Doch produzieren die belebenden Phantasien durch allzu angestrengte Vergleiche häufig auch recht schrille Bilder. (SZ 14.9.88, LEDANFF über SCHERTENLEIB)

Mit seinem Roman „Ende einer Feigheit“ zeichnet Jürgen Fuchs ein lebendiges politisches Sittenbild der DDR. (ZEIT 1.4.88, BIERMANN über FUCHS)

Die Abnabelungsgeschichte erzählt Barbara Frischmuth [...] mit erfrischender Lebendigkeit. (ZEIT 20.5.88, HILGENBERG über FRISCHMUTH)

 

Die Entscheidung der Jury war eine Anerkennung für die stupende erzählerische Vitalität des Autors [...] (FAZ 10.9.88, JACOBS über SPÄTH)

So bekommt die ganze Geschichte erst etappenweise durch neue Spannungsmomente etwas Schwung. [...] Tempo und jeden Hintersinn vermißt man in dem ausgedehnten Rahmen. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

Doch darauf [=auf ein paar Mängel] kommt es bei diesem Büchlein, das Mache mit Rasse verbindet, wirklich nicht an. (SZ 16.1.88, KAISER über BECKER)

 

Aber er [=der Autor] ist doch immerhin ein Routinier, der genau weiß, wie man Geschichten abwechslungsreich und unterhaltsam zu erzählen hat. (FAZ 13.6.88, SEGEBRECHT über RÜCKER)

Gewiß, man könnte [...] die Leerstellen im Text neben turbulent erzählten Episoden als Stilmoment einer posthistorischen Wurstigkeit sehen. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

Der Schluß ist nun, ganz im Gegensatz zum Anfang, sehr flott. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

In den Liebesgedichten des Bandes gewinnt das Pathos eine wirklich neue und produktive Kraft, die mitreißt [...] (FAZ 30.1.88, UEDING über ECKART)

 

 

Neben Unterhaltung und Lebendigkeit werden auch Vergnügen, Witz und Spaß positiv bewertet mit folgenden Begriffen: Vergnügen (sieben Belege), Lesevergnügen (zwei Belege), vergnüglich (zwei Belege), Amüsement, amüsant (acht Belege), zum Lachen bringen, Spaß haben, Pointe[7] zündet, Witz (fünf Belege), witzig (sechs Belege), Humor (zwei Belege), humorvoll, lustig (zwei Belege), komisch (zwei Belege), Situationskomik, trocken (zwei Belege), Ironie, Schmäh[8].

 

 

Im übrigen aber löst Bielers „Walhalla“ ein, was Parodie verspricht: literarisches Selbstkorrektiv zu sein zum Vergnügen des Lesers. (FAZ 8.6.88, HINCK über BIELER)

Dank der virtuosen Sprachartistik Späths wird das Buch zu einem ungewöhnlichen Lesevergnügen. (ZEIT 14.10.88, LÜTZELER über SPÄTH)

[...] ein vergnügliches und auch trauriges Puzzle [...] (FAZ 22.3.88, WEINZIERL über MAURER)

Ich habe keinen dieser Aufsätze ohne Amüsement, Gewinn [...] gelesen [...] (SZ 15.11.88, KAISER über ENZENSBERGER)

Dieser dritte Roman Claudia Erdheims ist absurd und amüsant. (ZEIT 6.5.88, EYRING über ERDHEIM)

Das Eigenleben der sprachlichen Bilder überlagert den Ernst des Erzählten mit einer Logik, die den Leser zum Lachen bringt [...] (SZ 17.9.88, FISCHER über SPÄTH)

Wer zu lesen versteht hat viel Spaß an dieser „Verabredung in Rom“ [...] (SZ 5.10.88, BENDER über HEGEWALD)

Der Autor verknüpft souverän die parallelen Handlungsstränge, und er zündet allerlei Pointen, doch er interessiert sich nicht wirklich für seine Figuren. (ZEIT 4.3.88, BRAUN über PELTZER)

Und nicht recht zünden will der Witz der Folgerung, die an eine Parodie auf das sprachliche Unterscheidungssystem der Töne [...] geknüpft wird [...] (FAZ 29.3.88, HINCK über LETTAU)

[...] Ralf Rothmann hat es ganz offensichtlich ein diebisches Vergnügen gemacht, eine Geschichte voller [...] geistreichem Witz und Sprachlust zu erfinden. (ZEIT 7.10.88, VON BECKER über ROTHMANN)

[...] als Nachbar Kadur die „unerhörte Begebenheit“ einer Karnevalshalluzination erzählt, die wirklich un-heimlich witzig das Traumhafte mit dem Alltäglichen verbindet. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

[...] und jene spezifische Art von Humor, die sich zu mokieren weiß aus einer ganz uneitlen Ernsthaftigkeit heraus. (SZ 5.10.88, BUCHKA über BECKER)

Es ist ein humorvolles Buch, das vom erfrischenden Temperament der Anna Neuherz [...] lebt [...] (FAZ 5.5.88, FULD über WEINZETTL)

Eine Operation, die lustig und listig, aber ganz und gar nicht lächerlich wirkt. (SZ 10.2.88, KRAMBERG über SAHL)

Denn in diesem Roman zeigt Stefan Schütz, [...] daß er eine streckenweise glänzende Prosa schreiben kann, spannend und anspruchsvoll, komisch und abgründig zugleich. (FAZ 25.6.88, FULD über SCHÜTZ)

Alles nimmt aufeinander Bezug [...] und enthüllt das in Szenen voll trockener Situationskomik. (ZEIT 7.10.88, VON BECKER über ROTHMANN)

Überhaupt beherrscht dieser Schriftsteller die Lust des Weglassens, des trockenen Tons [...] (ZEIT 7.10.88, VON BECKER über ROTHMANN)

[...] anstelle von Witz und Ironie obsiegt der Kalauer. (FAZ 21.1.88, BIELEFELD über ENDLER)

Das las sich wie ein flotter Traum über eine ironisch amüsant, mit Charme und Schmäh porträtierte DDR [...] (SZ 16.1.88, KAISER über BECKER)

 

 

Neben der UNTERHALTUNG wird von deutschen Rezensenten auch lobend die SPAN-NUNG hervorgehoben: Die Begriffe sind alle auf den Eindruck des Rezipienten bezogen: Gebannt, packend, fesseln (zwei Belege), fesselnd, anziehend-fesselnd; atemberaubend, spannend (vier Belege), Spannung (drei Belege), Spannungsmomente, Spannungsaufbau; aufregend (zwei Belege).

 

 

Gebannt folgt man Cotta [...] (SZ 22.10.88, EGGEBRECHT über RANSMAYR)

Eine unmittelbar packende Erzählung, die vom Jubiläumstreffen eines Konfirmandenjahrgangs dreißig Jahre nachher handelt [...] (SZ 17.2.88, VORMWEG über SCHÖFER)

Die Frage, warum uns manche erzählerische Arbeiten Hartmut Langes so fesseln und zum Nach-Denken zwingen [...] (SZ 30.3.88, BONDY über LANGE)

Fesselnd, knapp erzählt sie [...] die alte Geschichte. (SZ 8.12.88, KATZ über JOHANSEN)

Meduse - das ist auch eine Metapher für die Erzählung selbst, dieses [...] anziehend-fesselnde Gewebe. (SZ 18.5.88, SCHIRNDING über LEUTENEGGER)

[...] der Text „Die Suche“, die atemberaubende Inszenierung eines Albtraums mit einer überraschenden Pointe. (FAZ 21.4.88, HINDERER über CÄMMERER)

[...] an einem Text, der sich spannend und auf vielen Seiten aufregend darstellt. (SZ 8.12.88, KRAMBERG über BIENEK)

Und so verliert die Erzählung ihre innere Spannung (und der Leser die Geduld) [...] (ZEIT 9.9.88, HAGE über ZELLER)

So bekommt die ganze Geschichte erst etappenweise durch neue Spannungmomente etwas Schwung. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

[...] aber zum großen Erzähler fehlt ihm noch ein wenig der für die Handlungsführung nötige Überblick - vom Spannungsaufbau ganz zu schweigen. (ZEIT 25.3.88, TANTOW über THENIOR)

[...] was für eine aufregende Lektüre [...] (ZEIT 7.10.88, BAUMGART über WALTER)

 

 

6.1.2) Metaphern und Vergleiche

Die bildspendenden Bereiche für positive Wertungen sind die Architektur (Synästhesie), Eigennamen wie Laurence Sterne, Flann O’Brien, Richard Brautigan und John Fante und das Bild eines Spiels.

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

- Literatur und Sehempfindung: Architektur

 

 

Der wunderbare Humor des Autors sorgt überdies dafür, daß das Loch, das er sich und uns gewissermaßen selbst in den Bauch gefragt hat, kein düsteres Verlies, sondern ein funkelnder Abenteuerspielplatz des Geistes ist. (ZEIT 4.3.88, MODICK über C. ENZENSBERGER)

 

 

(2) Eigennamen

Positiv bewertet werden bezüglich ihres Humors Laurence Sterne und Flann O’Brien. Sterne (1713 - 1768) wird weniger wegen seines Reiseberichts „A Sentimental Journey trough France and Italy. By Mr. Yorick“, sondern wegen seines von 1759 - 1767 erschienenen Romanes in neun Bänden „The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman“ genannt worden sein, zu dem bemerkt wird: „Nach Erscheinen der ersten beiden Bände wurde Sterne sogleich zu einer in den vornehmen Kreisen von London und Paris applaudierten und wegen seines humorigen, unpedantischen Wesens geschätzten Persönlichkeit.“ (KINDLER Bd. 15 1996, 970)

Flann O’Brien (*1911 Strabane/Tyrone, Irland) setzt in seinem teilweise parodistischen Roman „At Swim-Two-Birds“ (1939) die Tradition von Laurence Sternes „Tristram Shandy“ fort und wird von J. Coleman als Verfasser dieses „äußerst lustigen Ein-Mann-Symposiums über irische Literatur“ (nach KINDLER Bd. 12 1996, 575) gelobt.

 

 

Sterne und O’Brien waren - jeder auf seine Weise - große Humoristen, und genau hier liegt eines der beiden Probleme Politickis: Er ist nie komisch, sondern immer nur geistreich [...] (ZEIT 22.4.88, RATHJEN über POLTYCKI)

 

Die satirisch-ironischen Romane Richard Brautigans (1935 - 1984, USA) „The Tokyo-Montana Express“ (1980) und „Trout Fishing in America“ (1967, Kultbuch der Gegenkultur im Westen der USA, vgl. KINDLER Bd. 3 1996, 65) geben ebenso wie die Werke John Fantes (*1909 in den USA), der inhaltlich und stilistisch mit Céline und Bukowski verglichen wird, den - positiv bewerteten - Hintergrund für den im Vergleich eindeutig schlechter bewerteten Roman Franz Doblers ab.

 

 

Ein deutscher Richard Brautigan oder John Fante wird er [=der Autor] trotzdem nie. (SZ 6.7.88, HÖBEL über DOBLER)

 

 

Sicher kennen nicht alle Leser die zum Vergleich herangezogenen Autoren und deren Werke; den Rezensenten kommt es hier wohl auch auf die Darstellung der eigenen Belesenheit an.

 

(3) Spiel

Die Spannung, die der Leser eines Buches verspürt, wird im folgenden Beispiel mit der eines Spiels verglichen. Damit wird gleichzeitig ausgesprochen, daß der Leser in die Welt des Buches mit ihren eigenen Regeln ebenso vollständig eintauchen kann wie in die eines Spiels, das den Mitspieler mitreißt, wenn er es ernstnimmt.

 

 

[Erzählen ist der Autorin] [...] fesselnd wie ein Spiel gelungen. (SZ 11.6.88, MOSER über BAUR)

 

 

 

 

6.2) Negativ wertend

 

6.2.1) Lexeme, Wortbildungen, Wortgruppenlexeme

Als Gegenbegriffe zu unterhaltend etc. finden sich in den Belegen Langeweile, langweilen, langweilend, gelangweilt (zwei Belege), langweilig (sechs Belege).

 

 

Es ist alles sehr zeitgenössisch und voll Neuer Deutscher Schnoddrigkeit, und je weiter die Lektüre fortschreitet, desto mehr überträgt sich die existentielle Langeweile, worin (im Buch) die graue Masse des Volkes versinkt, auf den Leser. (ZEIT 25.3.88, KLIER über SCHOLTEN)

[...] also alles [...] zu überlesen, was qualmt und rattert wie eine Meinungsmaschinerie, die Walter offensichtlich in seinem tiefsten erzählerischen Herzen genauso langweilt wie uns Leser. (ZEIT 7.10.88, BAUMGART über WALTER)

Einen Wall aus marmorschönen Worten, der mich [...] in langweilender Distanz hält zu den Figuren dieser letzten Welt [...] (SZ 22.10.88, KAISER über RANSMAYR)

[...] es gibt lange Strecken, auf denen [...] man zunehmend gelangweilt der Dinge harrt [...] (FAZ 21.1.88, BIELEFELD über ENDLER)

Näher betrachtet, ist das meiste bei Berger nicht nur maßvoll und freundlich in der Gesinnung, sondern auch langweilig. (FAZ 4.11.88, HARTUNG über BERGER)

Gegenbegriffe zu frisch, erfrischend, belebend sind unfrisch, fad (drei Belege), reizarm.

 

 

[...] ja daß die ganze Atmosphäre des Buches seltsam unfrisch [...] anmutet. (FAZ 20.10.88, ENGEL über HOLZWARTH)

Das gibt selbst Ulla Hahns besseren Gedichten etwas Puppiges. Alles ist so heil, so nett und heimelig in der Dichterinnenstube - und so zeitlos fad. (ZEIT 25.3.88, KILB über HAHN)

[...] auch dann geht die Lektüre wieder über manche reizarmen Passagen hinweg. (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

 

 

Statt erfrischend und belebend wirken manche Bücher ermüdend: ermüden, ermüdend (fünf Belege), einschläfern, gähnen, Gähnzwang, lähmend sind die Begriffe, die die negative Seite dieses Aspekts verdeutlichen.

 

 

Aber nicht allein die Abstiege in den Tiefsinn ermüden, sondern vor allem die poetischen Höhenflüge [...] (FAZ 13.10.88, FULD über HERMANN)

Doch die übrigen Abstecher sind ebenso überflüssig wie ermüdend. (FAZ 29.3.88, WITTSTOCK über NEUMEISTER)

Monotonie schläfert ein. (FAZ 2.7.88, HINCK über DÜRRENMATT)

Aber diesmal habe ich nur mehrfach herzlich gegähnt. [=Bei der Lektüre des Buches] (FAZ 17.5.88, HINCK über KANT)

[...] was löste dann immer öfter Gähnzwang aus? (ZEIT 30.9.88, BAUMGART über ENZENSBERGER)

Was für eine lähmende [...] Lektüre [...] (ZEIT 7.10.88, BAUMGART über WALTER)

 

 

Statt abwechslungsreich, turbulent, flott, mitreißend zu sein wirft man den negativ bewerteten Werken folgendes vor: Monotonie, eintönig, immer länger, Längen, langatmig (drei Belege), Langatmigkeit und als Folge für den Rezipienten: Geduld verlieren.

 

 

Monotonie schläfert ein. (FAZ 2.7.88, HINCK über DÜRRENMATT)

[...] jedoch wirken sie [=die Erzählungen] mit der Zeit eintönig. (FAZ 13.12.88, OBERMÜLLER über WOHMANN)

„Die Summe. Eine Begebenheit“ ist ein wahrlich wunderliches Buch, eines der Bücher, die sich beim Lesen auf wunderbare Weise verwandeln - sie werden länger und länger und immer länger. (ZEIT 25.3.88, LÜDKE über KANT)

[...] es gibt Längen [...] (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

Schließlich entschwindet er ganz im Uferlosen und knüpft nur noch nichtssagende Reisebeschreibungen, langatmige Naturschilderungen und Archivdaten aneinander. (FAZ 29.3.88, WITTSTOCK über NEUMEISTER)

Gar nicht einsehbar ist die Langatmigkeit mancher Passagen [...] (SZ 30.4./1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

Und so verliert die Erzählung ihre innere Spannung (und der Leser die Geduld) [...] (ZEIT 9.9.88, HAGE über ZELLER)

 

Bezüglich Vergnügen, Witz und Spaß werten folgende Wörter negativ: dozierend, geistreich; witzeln[9] (zwei Belege), müder Witz, Flachserei, albern, Albernheit, Kalauer[10], (fünf Belege), kalauernd, Humorlosigkeit.

 

 

[...] ohne der Gefahr sentimentaler Verklärung oder dozierender Langeweile zu erliegen. (FAZ 5.5.88, FULD über WEINZETTL)

Er ist nie komisch, sondern immer nur geistreich auf jene quecksilbrige Weise, die schnell zu ermüdender Langeweile verkommt.(ZEIT 22.4.88, RATHJEN über POLITYCKI)

 

Das denkt und witzelt so vor sich hin [...] (SZ 5.10.88, HÖBEL über GOETZ)

Der Autor hangelt sich von einem müden Witz zum anderen.[...] Und wo überlegene Ironie erwartet werden kann, brachte er es nur zu Flachserei. [...] ein albernes Gerangel [...] (FAZ 17.5.88, HINCK über KANT)

[...] und manchmal drohen die Untiefen des Kalauers und der Albernheit. (FAZ 8.6.88, HINCK über BIELER)

Der Witz gerät [...] bisweilen in die Nähe des Kalauers [...] (FAZ 1.7.88, MIEHE über BIANCHI)

Um so unverständlicher die kalauernde Variante, die uns Soellner an anderer Stelle nicht erspart [...] (FAZ 4.10.88, HIEBER über SOELLNER)

Ihre [=die Prosa] Humorlosigkeit, ihr Mangel an Ironie sind bekannt. (FAZ 4.10.88, KRÜGER über WOLF)

 

 

Hinsichtlich der Spannung werten negativ: Achsel zucken (auf den Rezensenten bezogen), Spannungsabfall, spannungslos.

 

 

Wenn es [=das Buch] trotzdem häufig die Achsel zucken [...] läßt. [...] Gewiß, man könnte die häufigen Spannungsabfälle [...] als Stilmoment einer posthistorischen Wurstigkeit sehen [...] (SZ 30.4/1.5.88, LEDANFF über THENIOR)

Ihre [=die Autorin] Texte sind launisch. Immer lauert die Gefahr eines Umschlags in spannungslose Banalität [...] (SZ 4.6.88, CRAMER über SCHMIDT)

 

 

 

 

6.2.2) Metaphern und Vergleiche

Negativ wertend sind folgende Bildbereiche eingesetzt: Sehempfindung und Geschmacks­empfindung (Synästhesien), Eigennamen wie Johannes Mario Simmel, andere Textsorten, Natur, menschlicher Organismus, Schule, Fortbewegung und Bürokratie/Beamtentum.

(1) Synästhetische Metaphern und Vergleiche

(1.1) Literatur und Sehempfindung

(1.1.1) Architektur

Das folgende Bild, in dem der Rezensent ein Loch, das der Autor in den Bauch gefragt habe, gleichsetzt mit einem Verlies und einem Abenteuerspielplatz, ist recht schief:

 

 

Der wunderbare Humor des Autors sorgt überdies dafür, daß das Loch, das er sich und uns gewissermaßen selbst in den Bauch gefragt hat, kein düsteres Verlies, sondern ein funkelnder Abenteuerspielplatz des Geistes ist. (ZEIT 4.3.88, MODICK über ENZENSBERGER)

 

 

(1.1.2) Photographie

 

 

Günter Grass am Ganges: das ist wie eine ermüdende Diaschau. (ZEIT 26.8.88, HAGE über GRASS)

 

 

Der Vergleich spielt auf die langweilige, inhaltsarme Handlung an; der Vergleichsbereich der Photographie bietet sich insofern an, als Grass seinen poetischen Reisebericht selbst illustriert hat - nicht sehr überzeugend, wie die Rezension zeigt.

 

(1.2) Literatur und Geschmacksempfindung

 

 

Das wirkt im ersten Moment schal [...] (ZEIT 7.10.88, MODICK über KEMPOWSKI)

 

 

Ähnlich wie ein abgestandenes Getränk nicht mehr anregend oder erfrischend wirkt, fehlen der kritisierten Literatur spannende und unterhaltende Elemente, um den Leser zu fesseln.

 

 

 

(2) Eigennamen

Als Vergleichsbasis führt der folgende Beleg den negativ bewerteten Schriftsteller Johannes Mario Simmel an; der Autor des rezensierten Werkes wird im Vergleich mit Simmel noch schlechter beurteilt

 

 

[...] außer der Lektüre von 616 Seiten, die saurer fallen als bei jedem Simmel, der zwar ebenso tiefsinnig und banal zugleich auftritt, aber selbst im schlimmsten Falle noch leidlich unterhaltsam. (FAZ 4.10.88, UEDING über WALTER)

 

 

Simmel wird ziemlich schlecht eingestuft, bezüglich seines Unterhaltungswertes jedoch etwas (leidlich) aufgewertet, wogegen O. F. Walter völlig abfällt, weil er nicht einmal Unterhaltung zu bieten hat.

 

(3) Andere Textsorten

Einige Beispiele liegen vor, die Predigten oder verwandte Formen als Metaphern oder Ver­gleiche für besonders langweilige sprachliche Produktionen bemühen.

 

 

[...] ein Lebenspragmatismus [...], der aber auch in Worten zum Sonntag gern gepredigt wird [...] (FAZ 2.8.88, MEYHÖFER über BRÜCKNER)

[Überschrift] Psychokitsch im Predigtton [...] Statt solch antiquierter Predigt hätte Eisendle doch lieber einen Roman schreiben sollen. (FAZ 7.4.88, FULD über EISENDLE)

[...] so daß die Botschaft Frieds zur poetisch-prosaischen Predigt [...] verkümmert. (FAZ 26.2.88, WEINZIERL über FRIED)

 

 

(4) (Unbelebte) Natur

Die Langeweile einer Lektüre erinnert an einen ereignislosen Gang durch die immer gleichför-mige Wüste:

 

 

Es überwiegen die Wüsteneien der Beschreibungen [...] (FAZ 18.7.88, BIELEFELD über BURMEISTER)

 

 

Ebenso wenig Unterhaltung oder Spannung verheißt das Adjektiv dürr.

 

 

Ihre Prosa ist im Laufe der Jahre eher dürr und blutarm geworden. (FAZ 4.10.88, KRÜGER über WOLF)

Daß ein Werk kein Tempo aufweist, das mitreißen könnte, zeigen Verben, die langsame Bewegungen des Wassers aufgreifen: weiterplätschern, dahinplätschern.

 

 

[...] die Geschichte plätschert weiter. (FAZ 12.8.88, HEINRICH-JOST über ASMODI)

Und so plätschert die Geschichte dahin. (ZEIT 16.9.88, LÜDKE über WALSER)

 

 

 

(5) Menschlicher Organismus

 

Ihre Prosa ist im Laufe der Jahre eher dürr und blutarm geworden. (FAZ 4.10.88, KRÜGER über WOLF)

Das Konzept ist makellos, es ist ohne Zweifel eines der ausgeklügeltsten der zeitgenössischen Sprachkunst, aber seine Umsetzung ist klinisch tot. (ZEIT 22.4.88, RATHJEN über POLITYCKI)

 

 

 

(6) Schule

 

Demgegenüber wirken seine Exkurse in die friesische Historie [...] wie lustlos dialogisierter Geschichtsunterricht. (ZEIT 19.8.88, HORSTMANN über EIGNER)

Hinzu kommt, daß die deutschen Szenen plastischer beschrieben sind als die schulbuchtrockenen Rückblenden auf das Leben in Israel. (FAZ 16.3.88, MIEHE über SCHEIB)

 

 

 

(7) Fortbewegung

Ähnlich wie die Beispiele aus der Natur, die das Dahinplätschern des Wassers als negativ wertenden Vergleich für das mangelnde Tempo und die mangelnde Spannung eines Werkes benutzen, sind auch Verben und Adjektive der langsamen Fortbewegung Indikatoren für fehlende Spannung und fehlenden Witz: auf der Stelle treten, dahinschleichen, lahm.

 

 

Sie [=die Prosa] flitzt atemlos dahin - und tritt letztlich doch auf der Stelle. (ZEIT 25.3.88, SCHMIDEL über MAURER)

In der längsten unter Jochen Kelters dahinschleichenden Erzählungen verrät der Autor [...] (ZEIT 25.3.88, AUFFERMANN über KELTER)

Lahm daher kommt aber das Bemühen um witzige Zuspitzung in der Definition des Reisens [...] (FAZ 29.3.88, HINCK über LETTAU)

 

 

 

(8) Bürokratie, Beamtentum

Darauf daß Standesbeamte, die z.B. bei einer Trauung phantasievoll zum Thema Liebe sprechen könnten, vorgefertigte und nicht sehr mitreißende Reden halten, spielt der folgende Rezensent an. Der Vergleich ähnelt den Vergleichen mit einer Predigt (s.o. (3)).

 

 

Was er über die Liebe selber zu sagen hat, ist eines Standesbeamten würdig [...] (SZ 10.2.88, KNODT über ASMODI)

 

 

Denkbar ist auch zusätzlich eine abwertende Bedeutung des Vergleichs bezüglich des Aspekts ORIGINALITÄT/INNOVATION, da Standesbeamte ihre Reden eher schematisch und nicht sehr individuell gestalten.

 

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zurück zum letzten Kapitel

Nächstes Kapitel: Teil 2 - 7) Intellekt

 



[1] Vgl. VON HEYDEBRAND/WINKO (1996, 129): „ Die gegenteilige Wirkung, die literarische Texte hervor­rufen können, nämlich Langeweile, wird zwar nicht theoretisch als Wert postuliert, scheint aber, z.B. im Kon­text deutschsprachiger Avantgardeliteratur, akzeptabler zu sein als Unterhaltung.“

[2] HECKMANN (1986, 16) führt noch den Untertitel der ersten deutschen Übersetzung des FRANCION (1662) von Charles SOREL an: „Wahrhafftige und lustige Histori“.

[3] FONTANE bemängelt in seiner Kritik von Goethes „Lehrjahren“ den Roman vom Standpunkt eines Laien aus als „langweilig“ (nach BAHR 1982, 349).

[4] Fremdwörter-DUDEN: „a) im Ideengehalt, gedanklich recht unbedeutend, nicht originell b) alltäglich, ge­wöhnlich, nichts Auffälliges aufweisend.“

[5] DUDEN: „[...] 3. lebhaft, munter, voll Leben [...]“

[6] DUDEN: rassig: „durch das Vorhandensein bestimmter markanter Merkmale Bewunderung hervorrufend; mit einer temperamentvollen, feurigen, spritzigen Note ausgestattet; temperamentvoll, feurig [...]“

[7] Fremdwörter-DUDEN: „geistreicher, überraschender Schlußeffekt (z.B. bei einem Witz).“

[8] DUDEN: „[...] 2. verbindliche Freundlichkeit; Sprüche und Scherze: Wiener S.“

[9] Nach FLEISCHER (41975, 321) enthalten die Verben auf -el-n gegenüber denen auf einfaches -(e)n ein iteratives und diminuierendes und in Verbindung damit teilweise auch pejoratives Bedeutungselement.

[10] Fremdwörter-DUDEN: „als nicht sehr geistreich empfundener, meist auf einem vordergründigen Wortspiel beruhender Witz [...]“