4) überblick
über die GESCHICHTE DER LITERATURKRITIK
Das
Wort <K.[ritik]> bezeichnet bildungssprachlich heute fast ausschließlich
die Rezension literarischer
Neuerscheinungen und die Besprechung
künstlerischer Darbietungen als Formen der Publizistik, sowie die Gesamtheit
der diese verfassenden Personen. Solchem Wortgebrauch zufolge unterscheidet
sich K.[ritik] von der (akademischen) Literaturwissenschaft neben der
Aktualität dadurch, daß sie sich der Äußerung von Werturteilen und der
Einflußnahme nicht enthalten muß. In dieser engen Verwendung ist
<K.[ritik]> das Ergebnis eines Bedeutungswandels, dem das französische
<critique> und das englische <criticism> nicht in gleicher Weise
unterlegen sind, so wenig sich in beiden Sprachen ein <Literaturwissenschaft>
vergleichbarer Terminus hat durchsetzen können. (WEBER 1976, 1285)
Der Begriff der ‘Kritik’
leitet sich aus dem griechischen kritiké (téchne) (lat. meist iudicium
bzw. ars iudicandi) ab, „wobei die Bedeutung von ‘beurteilen’ oder
‘entscheiden’ in ethisch-politischer und juristischer Hinsicht, aber auch ganz
allgemein im unterscheidenden Wahrnehmungsurteil oder Denkakt überwiegt“.
(HOLZHEY 1976, 1249)
In der Entwicklung der K.[ritik] tritt der Gedanke des nach bestimmten Maßstäben Urteilens, der Prüfung und Entscheidung hervor, der in den Geltunsgebieten der Text-, Quellen-, Literatur-, Kunst- und Musik-K.[ritik], in der historischen, philosophischen, in Kultur- und Gesellschafts-K.[ritik] seine Bedeutung gewonnen hat. (SCHALK 1976, 1282)
Das heutige Verständnis von
(Literatur-)Kritik als das Urteil eines Fachmannes läßt sich durch das 18. und
17. Jahrhundert zurückverfolgen bis hin zu ARISTOTELES.[1]
Jedoch ist das Vorgehen beim Beurteilen literarischer Werke bis ins 18.
Jahrhundert deduktiv auf der Basis der antiken Poetik und Rhetorik.
Im Barock orientiert man
sich ästhetisch an der klassischen Rhetorik und faßt Dichtung als artifizielle,
wirkungsbezogene Rede auf, deren Technik erlernbar ist und deren Rezeption
Bildung voraussetzt.[2]
Positive Werte, die auch in der heutigen Literaturkritik auftauchen, sind auf
die Erfüllung eines Zwecks gerichtet: die persuasio, lustvolle Belehrung[3],
nützliche Unter-haltung[4],
Steigerung der Gefühlsbewegungen[5]
durch formal-ästhetische Perfektion. Gefordert werden Deutlichkeit (perspicuitas)[6],
Schmuck (ornatus) und Angemessenheit an die Situation (aptum;
dadurch werden die drei Stilebenen des genus grande, genus medium
und genus humile voneinander abgegrenzt). Prinzipiell zielt die Dichtung
im Barock auf Wirkung im praktischen Leben, d.h. auf wirkungsbezogene
nicht-ästhetische und ästhetische Werte. Der Zweck der Dichtung kann
theoretische (metaphysische, wissenschaftliche) oder praktische (moralische,
politische) Belehrung sein, aber auch gesellige Unterhaltung und Repräsentation
bei öffentlichen und privaten Anlässen. Je nach Zweck werden die Mittel der
Stilhöhe, Stilart und Gattung ausgewählt unter Beachtung der aptum-Regel
und weiterer praecepta. Trotz Orientierung an exempla ist
Originalität bzw. Innovation möglich durch neue Ausarbeitung und Variation.
Nach all diesen Eigentümlichkeiten der Barockliteratur richtet sich natürlich
auch deren adäquate Wertung. (Vgl. VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 160f.)
Literaturkritik bedeutet
dann im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, primär Buchkritik,
veröffentlicht in diversen Journalen mit den für die Aufklärung typischen
pädago-gischen Absichten, die Entwicklung der Literatur zu steuern und den
Publikumsgeschmack zu bilden. Die Hintergründe für die entstehende
Literaturkritik sind in der Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts zu sehen
(vgl. BERGHAHN 1985, 16ff.), in der Alphabetisierung und Litera-risierung der
Bevölkerung, der Kommerzialisierung des Buchmarktes, ebenso in der neuen Rolle
des Schriftstellers und Verlegers, die sich nicht mehr ins Mäzenatentum
einordnen läßt und ab 1770 die Marktorientierung in den Vordergrund stellt, in
der Entstehung von Zeit-schriften, die informieren und kritisieren - gerade mit
Gottsched beginnt die literarische Publi-zistik und Kritik in Deutschland - und
mit der Polarisierung von Bildungselite und einer breiten Leserschaft.
J. CHR. GOTTSCHED bemüht
sich in seinem „Versuch einer Critischen Dichtkunst“ (1730) „um eine rationale
Grundlegung der Poetik durch das Prinzip der Naturnachahmung“ (WEBER 1976,
1288).[7]
Die Philosophen haben nach Gottsched die Aufgabe, sich mit dem „inneren Wesen
der Poesie“ zu beschäftigen, „die Regeln der Vollkommenheit“ zu erforschen,
damit sie
von allem, was sie an einem Gedichte loben und schelten, den gehörigen Grund anzuzeigen wissen. [...] Wer dieses aber tut, der bekommt einen besondern Namen und heißt ein Criticus: dadurch ich nämlich nichts anders verstehe als einen Gelehrten, der von freien Künsten philosophieren kann. (GOTTSCHED 1972, 37f.)
Damit tritt Gottsched einem
eigenständigen Geschmacksurteil entgegen.
Zwischen aufklärerischem
Rationalismus und pietistischem Irrationalismus versuchen die Schweizer BODMER
und BREITINGER durch ihre Begriffe des „Wahrscheinlichen“ und dennoch
„Wunderbaren“ zu vermitteln und geben damit auch der Kritik neue Kriterien vor.
Gerade BREITINGER wertet wie die Pietisten die Affekte[8]
sehr hoch. Herz und Seele sorgen für eine wirkungsvolle Rede mit passender
Bildersprache statt Begriffssprache; die Anwendung der Regeln der Rhetorik
durch Wissen und Verstand wird weniger hoch eingeschätzt. Die Schweizer ebnen
damit den Weg für eine neue Ästhetik, die die Autonomie der Kunst propagiert
(s.u.).
Zwei Tendenzen wirken der
rationalistischen Regelpoetik und Kritik seit 1750 entgegen: der Aufstieg einer
neuen Geschmacksträgergruppe und die Entstehung einer modernen Ästhetik.
Sowohl im 17. Jahrhundert
bei GRACIAN (El Discreto) als auch im 18. Jahrhundert bei ADDISON
(Spectator-Essay, 1716) und DUBOS (Réflexions critiques, 1719) tritt das
Bürgertum als neue Geschmacksträgergruppe in Erscheinung, wobei Geschmack immer
mehr zum subjektiven Kunstgefühl wird. In Deutschland nimmt die Geschmacksdiskussion
eine andere Richtung, da es weder eine als „klassisch“ definierte Literatur
gibt, an der sich ein nationaler Geschmack hätte bilden können, noch ein
gebildetes Publikum wie in England und Frankreich. Daher stehen die
pädagogischen und theoretischen Bemühungen im Vordergrund. (Vgl. BERGHAHN 1985,
29-33) Unter den theoretischen Bemühungen ist besonders BAUMGARTEN zu nennen,
der mit der „Wissenschaft des Schönen“ das Geschmacksurteil philosophisch
begründet.
BAUMGARTEN erweitert die
neue kritische Methode auf den gesamten Bereich der Kunst und schafft somit
1750 die neue Disziplin der Ästhetik. Kritik und Ästhetik gelten als Teile der
Logik: Die Ästhetik ist die Wissenschaft, die von den sog. niederen
Erkenntniskräften be-stimmt ist. Die Kritik beurteilt Vollkommenheit und
Unvollkommenheit der Dinge. Wird Sinnliches beurteilt, ist die ästhetische
Kritik (=die Ästhetik) gefordert, wird Geistiges beurteilt, ist die Kritik im
weiteren Sinne als eine Art Erkenntniskritik gefordert. Ästhetik ist der Kritik
insofern übergeordnet, als sie auch Theorie der Kunst ist. Durch die Trennung
von Kritik und Ästhetik wird die der deutschen Sprache eigene
Bedeutungsentwicklung des Begriffs Kritik
gegenüber dem Englischen und Französischen eingeleitet. Beschreibung und
kritische Würdigung der jeweiligen Gegenwartsliteratur erfahren eine Abwertung
und werden in den Journalismus abgedrängt.
Den entscheidenden
theoretischen Beitrag zur Verbindlichkeit ästhetischer Urteile leistet KANT mit
seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) (vgl. BERGHAHN 1985, 35ff.): Ein Geschmacksurteil
ist zwar subjektiv[9], aber auch
die gefühlsmäßige Beurteilung des Schönen läßt sich auf ein apriorisches
Prinzip zurückführen. Geschmack ist „das Vermögen der Beurteilung des Schönen“
(KANT 1974, 115), wobei „ohne alles Interesse“ (KANT 1974, 116) geurteilt wird.
Damit verteidigt er die Autonomie der Kunst gegen alle Mäzene, Eliten etc..
KANTs berühmte Definition des Schönen lautet daher: „Das Schöne ist das, was
ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird.“
(KANT 1974, 124) Der Urteilende geht im Geschmacksurteil über seine private
Subjektivität hinaus und spricht für alle. „Er urteilt nicht bloß für sich,
sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine
Eigenschaft der Dinge.“ (KANT 1974, 126)[10]
Das Neue an KANTs Vorgehensweise ist die Vorstellung, daß der Kritiker immer
induktiv vorgehen müsse, nicht mehr deduktiv wie zu Zeiten der Abhängigkeit von
der Regelpoetik.
LESSING hat für die praktische
Literaturkritik die Bedeutung, die Kant für die Theorie hat. Er unterscheidet
die Kritik deutlich von Ästhetik, Kunstliebhaberei und Gattungspoetik.
Gegen-stand der Kritik ist einerseits z.B. in „Laokoon oder über die Grenzen
der Malerei und Poesie“ (1766) die Grenzbestimmung der einzelnen Künste und
damit der Verweis auf Fehler, die einem Künstler, der diese nicht beachtet,
unterlaufen können, und andererseits die Bestimmung der Aufgabe der Gattungen,
wie Lessing sie in der „Hamburgischen Dramaturgie“ (1769) vornimmt. Die Künste
werden - gemäß der sensualistischen Wirkungsästhetik - nach ihren Wirkungen auf
die Empfindungen des Kunstliebhabers beurteilt. Das Hauptkriterium für die
Bewertung von Dramen ist der aus der aristotelischen Wirkungsästhetik bekannte
und von Lessing speziell interpretierte Begriff des Mitleids.[11]
In seiner heteronomen Literaturkon-zeption ist ein Drama um so besser, je
deutlicher es diesen Affekt auszulösen versteht.[12]
Der Kritiker vermittelt zwischen den Empfindungen des gebildeten Laien und den
ästhetischen Prinzipien. Der Unterschied zwischen dem „Mann von Geschmack“ und
dem „Kunstrichter“ ist der, daß der „Kunstrichter“ seine Empfindungen mit der
Angabe von Gründen für seinen Tadel oder sein Lob versieht. Daher wird der Kritiker
zum Anwalt und Erzieher des Publikums.
Zur ersten grundsätzlichen
Krise der Institution Literaturkritik kommt es durch die Genieästhetik des
Sturm und Drang, die den Kritikern das Gefühl vermittelt, sie selbst seien
Genies oder zumindest kongenial; dies zeigt Lessings polemische Äußerung in der
„Hamburgischen Dramaturgie“:
Wir
haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren
beste Kritik darin besteht, - alle Kritik verdächtig zu machen. „Genie! Genie!“
schreien sie. „Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie
macht, ist Regel!“ So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, damit wir sie auch
für Genies halten sollen. Doch sie verraten zu sehr, daß sie nicht einen Funken
davon in sich spüren, wenn sie in einem und eben demselben Atem hinzusetzen:
„die Regeln unterdrücken das Genie!“ - Als ob sich Genie durch etwas in der
Welt unterdrücken ließe! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst
gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber
jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in
sich. (LESSING 31978, 371)
Lessing gibt allgemeinen
Regeln deutlich den Vorzug vor der Regellosigkeit des Sturm und Drang, der es dem
künstlerischen Genie überläßt, nach eigenen Regeln zu dichten. So werden
Originalität und Innovation im heutigen Sinne[13]
erst mit dem Sturm und Drang positive Werte. Vorautonome, rhetorische
Kunstauffassungen wie besonders die des Barock bewerten die Variation
vorgegebener Muster im Rahmen der Kontinuität der literarischen Tradition
positiver als völlig Neues.
Entscheidenden Einfluß auf
den Sturm und Drang, der mit der Dichtung die Kritik und deren Kriterien
revolutionär umwandelt, aber auch die Kontinuität der Aufklärung beweist, hat
HERDER ausgeübt.
HERDER hebt besonders die
historische Einmaligkeit jeder Kunst und damit auch jedes Kunsturteils hervor.
Die Kritik hat daher „alles [...] innerhalb seiner Grenzen, aus seinen Mitteln
und seinen Zwecken“ zu beurteilen[14]
und „jede Blume an ihrem Ort zu lassen, und dort ganz wie sie ist, nach Zeit
und Art von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten“[15].
Der Kritiker wird durch den Versuch, das Kunstwerk an seinem geschichtlichen
Ort des Entstehens zu verstehen, selbst zum Schöpfer und damit dem Dichter
kongenial. Er übernimmt mit seiner Rolle - nach HERDER - zunächst jedoch eine
dienende Funktion gegenüber dem Leser, dem Schriftsteller und der Literatur:
„Dem Leser erst Diener, denn Vertrauter, denn Arzt. Dem Schriftsteller erst
Diener, denn Freund, denn Richter; und der ganzen Litteratur entweder als
Schmelzer, oder als Handlanger, oder als Baumeister selbst.“[16]
Die Haltung gegenüber dem Leser ist teilweise noch der Aufklärung verhaftet in
der Annahme, das Publikum sei noch unreif. Die Haltung gegenüber dem Dichter
ist neu, da mit dem Dichter statt gegen ihn gearbeitet wird und der
Kritiker die Funktion eines Anwalts des Dichters gewinnt. Eine damit verbundene
Akzentverschiebung ist die, daß der Kritiker sich eher als Sprecher des Autors
als des Publikums sieht.
Diese Haltung wird im
Geniegedanken des Sturm und Drang forciert: Entweder ist der Kritiker selbst
ein Genie, kann darum das Schaffen eines dichterischen Genies verstehen und
braucht die Kunst nicht mehr einem Publikum zu vermitteln, da er sich einfach
als einen „besonders begabten Rezipienten einer sich gesellschaftlich
separierenden Kunst“ (WEBER 1976, 1290) verstehen darf, oder er ist ein von den
Künstlern nicht ernst genommener Rezensent, den Fr. SCHLEGEL als den
„Markthelden der Buchbinder“[17]
bezeichnet. Daher ist im Sturm und Drang das „Berufsbild“ eines anerkannten
Kritikers dadurch charakterisiert, daß er berufsmäßiger Dichter und Kritiker
zugleich ist.
Das Kriterium, dem die
Literatur im Sturm und Drang unterworfen wird, ist die Frage, inwiefern sie die
schon von HERDER propagierten Maßstäbe der Natur, Kraft und Sinnlichkeit
realisiert, bzw. inwiefern sie „der Selbstaussage
und Selbstverwirklichung des
Dichters dienen“ könne. (MAYER 21956, Bd.
1, XVIII; Herv. MAYER)[18]
Andererseits wird als Kategorie der Literaturkritik auch die Volkstümlichkeit[19]
wichtig, da in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einigen Dichtern und
Theoretikern (z.B. dem Göttinger Hain und BÜRGER) auch das Ziel einer homogenen,
nationalen Kultur vorschwebt.
Der Stil der Kritiken im
Sturm und Drang wird zunehmend antiakademisch und temperamentvoll, wie es sich
in den über 400 Rezensionen des berühmten Jahrgangs 1772 der Frankfurter
Gelehrten Anzeigen ablesen läßt, dem kritischen Organ der Straßburger Gruppe.
(Vgl. BERGHAHN 1985, 56)
Völlig anders dagegen in
Stil und Inhalt sind die Kritiken der Klassik: In der Klassik werden dem
dichterischen Subjektivismus Grenzen gesetzt durch allgemeine ästhetische
Gesetzlichkeiten und damit auch neue Maßstäbe für die Kritik offengelegt, die
für die Kritik allgemein richtungsweisend werden. So wertet GOETHE in seiner
Schrift „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ (1789) den Sturm und
Drang von 1770/71 nur noch als „Manier“[20],
ein „ästhetische[s] Zwischenstadium fragwürdiger Art“ (MAYER 21956,
Bd. 1, XX), wohingegen „Stil“ angestrebt werden müsse, der „höchste Grad [...],
welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann.“ (MAYER 21956,
Bd. 1, XX) Das klassisch verstandene Autonomiekonzept umfaßt unter Schönheit
den Begriff der Ganzheit, der Stimmigkeit, sowohl im strukturalist-ischen Sinne
als Zusammenhalt der verschiedenen Ebenen eines literarischen Textes als auch
im hermeneutischen Sinne als Übereinstimmung von Gehalt und Gestalt.[21]
SCHILLER faßt die neuen
Maßstäbe der klassischen Ästhetik in seiner „Bürger-Kritik“ zusammen: In
vorderster Linie stehen die ästhetischen Forderungen seiner Zeit, das Individualitäts-
und Bildungsideal, ebenso das Ideal der Harmonie[22].
Das Ziel der Volkstümlich-keit, wie es noch BÜRGER verfolgt hatte, ist
aufzugeben, da durch alleinige Vermittlung der Literatur eine kulturelle
Einheit nicht wiederherstellbar sei. Der Dichter soll vielmehr seine Genialität
und seine subjektiven Erlebnisse in „veredelter“ Form zeigen, d.h. er soll sie
idealisieren, indem er eine künstlerische Distanz zu den eigenen Empfindungen,
aber auch zu den Zeitereignissen gewinnt.[23]
Damit ist die Entpolitisierung der Kunst eingeleitet, die zudem durch Kants
Autonomiebegriff der Kunst gestützt wird, und gleichzeitig wird die Gefahr der
Kompensation durch den schönen Schein einer affirmativen Kultur virulent.
Die Kunst der Klassik
entfernt sich ebenso wie die Kritik vom realen Publikum: Ein Ergebnis der engen
Zusammenarbeit von Schiller und Goethe ist die Privatisierung der Kritik zu
literarischen Werkstattgesprächen zwischen den beiden Klassikern. Der Kritiker
ergänzt die Theorie und wird Teilnehmer an einem Kunstgespräch innerhalb einer
literarischen Elite, indem er das von Zeit und Publikumsgeschmack unabhängige
Kunstwerk auslegt.
Schon bis hierher zeigt der
Überblick über die Geschichte der Literaturkritik, daß die meisten
Wertmaßstäbe, die auch heute noch gültig sind, mit der Autonomiekonzeption
entstanden sind: Das Werk verweist durch seine Beschaffenheit auf sich selbst
als Kunstwerk und benötigt keinen Bezug zur Realität. Es ist polyvalent, d.h.
nicht eindeutig vom Rezipienten aufnehmbar. Darüber hinaus ist der Wert der
Schönheit bereits im 18. Jahrhundert nicht mehr nur mit dem Wahren und Guten
identisch, sondern umfaßt unter dem Begriff des ‘Erhabenen’ auch eine Schönheit
des Schreckens, des Grauens, des Bösen.
In der Romantik findet
aufgrund der Esoterisierung von Kunstproduktion und -rezeption (SCHULTE-SASSE
1985, 80) eine radikale Umformung des Kritikbegriffs statt. Es existiert in der
Kritik, die sich im Gegensatz zur Polemik nicht mit aktueller populärer
Literatur auseinandersetzt[24],
sondern nur mit Literatur, die dem esoterischen romantischen Literaturverständnis
entspricht, keine Verurteilung, kein Aufdecken von Fehlern, denn romantische
Kritik will - so Friedrich SCHLEGEL - ein „Organon der Literatur [sein], also
eine Kritik, die nicht bloß aufklärend und erhaltend, sondern die selbst
produzierend wäre, wenigstens indirekt durch Lenkung, Anordnung, Erregung.“[25]
Walter BENJAMIN erkannte, daß romantische Kritik in erster Linie positiv
würdigen will und kaum an der Kritik von Fehlern interessiert ist, daß nach dem
romantischen Ideal generell nur Werke rezensiert werden, die den ästhetischen
Anforderungen entsprechen, um diese in der Rezension zur Entfaltung zu bringen.[26]
„Nicht zufällig fällt die Verallgemeinerung der Hermeneutik als Methode der
Interpretation in die gleiche Zeit. Die verstehende Auslegung wird in der Romantik
zur Basis der Literaturkritik.“ (HOHENDAHL 1985, 142)
Die frühromantische Position
macht Fr. SCHLEGEL noch deutlicher, wenn er schreibt: „Poesie kann nur durch
Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk
ist [...] hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst“[27].
Literaturkritiken erscheinen daher in literarischen Formen wie Gedicht,
Satire, Essay oder - der romantischsten aller Formen - dem Fragment. Kritik
rechtfertigt in der Romantik ihre Existenz durch das Fragmentarische,
Unabgeschlossene der dichterischen Werke,[28]
die geradezu die Kritik brauchen, die wiederum den Autor und sein Werk besser
versteht als er selbst. Dabei gibt es keine festen Kriterien, sondern diese
ergeben sich aus dem Werk selbst.[29]
Ein subjektiver Konsensus tritt an die Stelle eines objektiven, statt daß eine
öffentliche Norm existiert, an der ein Kunstwerk gemessen wird, stehen sich nun
„die Einmaligkeit des elementar fühlenden Genies und die Subjektivität des mit-
bzw. einfühlenden Lesers“ (SCHLAEGER 1972, 9) gegenüber. Dies wird
hervorgerufen durch eine differenzierte Theorie des Ästhetischen, „auf die
Kritik sich nunmehr statt auf Regeln zu beziehen hatte. [...] Damit wurde der
Gestus der Kritik zugleich abstrakter und philosophischer als auch
subjektiver.“ (SCHULTE-SASSE 1985, 97f.) Mit der Subjektivierung der Kritik ist
ihr Niedergang im allgemeinen Ansehen eingeleitet, denn es wandelt sich die
Kritik, nicht aber die allgemeine Meinung von den Aufgaben der Kritik.
Durch die extrem subjektivistische
Haltung der Dichter und Kritiker in der Romantik teilt sich die Gruppe der
Kritiker: Ein Teil versucht, wissenschaftliche Literaturgeschichte zu
schreiben, ein anderer Teil folgt der Literatur in den Ästhetizismus; der
Kritiker wird zum Künstler: „Die Kritik, die einmal Bewahrerin der öffentlichen
Normen gewesen war, ist damit zum Ausdruck persönlicher Präferenzen und
skurriler Vorlieben geworden [...]“. (SCHLAEGER 1972, 11)
In den auf die Romantik
folgenden Epochen[30]
trennen sich endgültig Literaturwissenschaft und Literaturkritik, wie GERVINUS’
(1833) Aussage bezeugt: „Mit ästhetischer Kritik hat der Literaturhistoriker
gar nichts zu tun“[31],
andererseits zieht sich die Literaturkritik im Jungen Deutschland und später
auf die Tagespresse zurück.
Auffällig ist ein
quantitativer und damit auch qualitativer Wandel der Buchproduktion und
-distribution ab dem ersten Drittel des 19 Jh.s, der zunehmend die
Gewinnorientierung der Verlage in den Vordergrund stellt und auch die Kritiker
betrifft. Sie wählen für den von der steigenden Buchproduktion verunsicherten
Leser einzelne Werke aus und dienen dadurch der Durchsetzung bestimmter Autoren
auf dem literarischen Markt. HOHENDAHL (1985, 132) bezeichnet schon das
Rezensionswesen der zwanziger Jahre als „Sekundärindustrie [...], die die Fülle
der jährlich auf dem Markt erscheinenden Werke für die Konsumtion vorbereitet.“
Zwangsläufig sinken einerseits Länge und Qualität der Rezensionen[32],
andererseits haben Kritiker, die einflußreiche Zeitschriften beherrschen, die
Möglichkeit, ihr literarisches Programm durchzusetzen. Ein Beispiel dafür ist
Wolfgang Menzel, der ab 1825 seine Rezensionen in der literarischen Beilage von
Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ veröffentlichen kann. Sein
Beurteilungskriterium ist ein politisches[33]:
Er verfolgt seine nationalliberalen Ideen in Angriffen gegen das Junge
Deutschland und versucht gleichzeitig seinen ehemaligen Schüler und
Konkurrenten Gutzkow vom Markt zu verdrängen. Dies führt 1835 zu einem Verbot
der Schriftsteller des Jungen Deutschland und zu einer Literaturfehde, die die
Konkurrenzsituation der Kritiker auf dem literarischen Markt in Verbindung mit
den Versuchen, eigene literarische Programme zu realisieren, erkennbar werden
läßt.
Gutzkow bewertet - unter
anderen Vorzeichen - die Literatur ebenfalls unter dem Aspekt, ob sie eine
politische Aussage enthält. Für das Jahr 1830 stellt Gutzkow 1839 im „Jahrbuch
der Literatur“ fest:
Die Literatur nahm damals in fast allen ihren Richtungen die Farbe des Zeitgeistes an. Die harmlose poetische Thätigkeit, welche früher unter Holunderzweigen ihre Lieder nur gesungen hatte, um mit der Lerche zu wetteifern, verstummte entweder, oder sie wurde nicht mehr gehört.“ (Nach HOHENDAHL 1985, 140, Anm. 40)
Durch die
Auseinandersetzungen nach 1835 ist stilistisch eine deutliche Zunahme an
Polemik in den extremen Verrissen zu verzeichnen mit dem Ziel der Ausschaltung
des Gegners. Bezüglich der Kriterien heben Wienbarg, Gutzkow und Mundt 1830 an
Heine und Börne besonders ihre Innovationen gegenüber der Klassik und der
Romantik lobend hervor, doch schon 1835 wird das Innovative negativ als
Destruktivität uminterpretiert, so daß Heine und Börne als überholt gelten, da
die neue historische Situation eine positive Einstellung verlangt, um produktiv
zu werden. (Vgl. HOHENDAHL 1985, 147)
Darüber hinaus erweitert
sich der Gegenstand der Kritik gemäß dem jungdeutschen Literaturbegriff: Nicht
nur künstlerische, sondern auch politische und wissenschaftliche Texte werden
rezensiert. Im Gegenzug soll die Kritik wesentlicher Bestandteil der schönen
Literatur werden.[34]
Dies bildet neben der Hervorhebung des politischen Aspekts das damit verknüpfte
zweite Beurteilungskriterium der Jungdeutschen. Das Werk steht mit seinen
formal-ästheti-schen Komponenten nicht im Mittelpunkt der Kritik, sondern die
Einordnung des Werkes und seines Autors in einen weiteren
gesellschaftlich-politischen Zusammenhang. Der Kritiker als Kämpfer für den
Fortschritt, der sich vom literarischen ins politische Leben übertragen läßt,
bewertet innovative[35],
fortschrittliche Aspekte der Literatur besonders positiv. Das zeigt sich auch
bei dem Linkshegelianer Robert Prutz, der von der Literatur seiner Zeitgenossen
Kritik der deutschen Verhältnisse - und damit meint er den patriarchalischen Staat
- fordert.
Generell unterscheidet die
Literaturkritik des Jungen Deutschland in der Bewertung durchaus zwischen der
ästhetischen und der politischen Funktion eines Werkes und kommt unter den
beiden Betrachtungsweisen zu heterogenen Urteilen über dasselbe Werk: Goethes
Werk z.B. wird als politisch konservativ eingestuft und somit kritisiert, unter
ästhetischem Aspekt wird es als progressiv verstanden und positiv eingeschätzt.
Wienbarg lobt bei Goethe gerade ästhetische und literarische Innovationen. (HOHENDAHL
1985, 148, Anm. 71)
Die Gegenposition und damit
Metternichs Programm vertreten konservative Kritiker und Schriftsteller wie
Friedrich Gentz, Adam Müller und teilweise auch Friedrich Schlegel, wobei die konservative
Partei das literarische Leben gegenüber den liberalen und demokratischen
Kräften durch die Zusammenarbeit mit den staatlichen Zensurbehörden dominiert.
Hauptkriterium der Bewertung von Literatur ist eine Verankerung der Literatur
im Christentum; so ist auch die Ablehnung und Verurteilung von Goethes
„Wahlverwandtschaften“ zu erklären. Die Kirchen selbst, die meist den
Standpunkt der staatlichen Zensur übernehmen, erkennen die Idee einer autonomen
Dichtung von vorneherein nicht an und beurteilen Literatur nach dem Kriterium,
inwieweit sie die Religion fördere.
Daß die Zeitgenossen 1848
als Epochenwende auch in der Literaturkritik sehen, zeigt sich darin, daß
deutlich das neue Programm des Realismus entworfen wird mit Normen, die sich
von der Tradition abheben sollen. In der Kritik des Nachmärz überwiegt der
Versuch, aus Thesen über die Natur des Kunstwerks und die Differenz zwischen
Kunst und Wirklichkeit das Konzept des Realimus abzuleiten und auf dieser Basis
die literarischen Werke zu beurteilen. Der wissenschaftliche Positivismus
beeinflußt seit den sechziger Jahren die Kritik, die der Kunst eine positive
gesellschaftliche Funktion insofern zuweist, als sie vom Künstler erwartet,
„daß er die Tendenzen in der Wirklichkeit auffindet, die den historischen
Fortschritt verkörpern. Der Künstler muß Sinn für die Realität haben [...].“
(HOHENDAHL 1985, 191) Es ist jedoch kein Empirismus gemeint, keine extreme
Widerspiegelungstheorie ausgesprochen, sondern der Wunsch nach einer Verklärung
der Wirklichkeit, d.h. die Abbildung der Wirklichkeit soll mit einer
moralischen Tendenz verbunden werden, das Ideal soll in die Wirklichkeit
verlegt werden.[36]
Kontroversen, die jedoch nie
einen solch polemischen Grundzug annehmen wie im Vormärz, ergeben sich zwischen
Kritikern dadurch, daß sie die Kriterien verschieden auffassen oder die Werke
unterschiedlich aufnehmen: Julian Schmidt kritisiert an Gutzkows „Ritter vom
Geiste“ (1850/51), daß er durch mehrsträngige Darstellungsweise die
Wirklichkeit zu detailliert abbilden wolle und keine Plastizität der Figuren
erreiche.[37] (HOHENDAHL
1985, 196, Anm 204) Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ (1855) wird aufgrund
der Erfüllung des realistischen Programms von Julian Schmidt und Fontane
gelobt, besonders seine Geschlossenheit und sein Humor[38]
werden positiv hervorgehoben. (HOHENDAHL 1985, 197, Anm. 209) Anschaulichkeit[39]
bei der Schilderung des bäuerlichen Lebens ist das Hauptkriterium für Schmidts
Lob gegenüber Gotthelfs Werken. An Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
lobt Fontane das - seiner Meinung nach - spontane Erfinden aus „seiner Natur“:
Goethe wisse am Anfang nur das gute Ende, sei ohne Plan „wie ein
Märchenerzähler“ und könne dennoch alles „zu einem gemeinschaftlichen Zwecke
verbinden“. Kritisiert werden die „männlichen Gestalten“, die „etwas
schemenhaftes [sic]“ hätten, es fehlten „die realistischen Details“.[40]
(FONTANE, zit. nach BAHR 1982, 347f.) Dem Genie Goethe gelingt - nach Fontane -
die Gestaltung, doch den vom Realismus geforderten Grad von Wirklichkeitsnähe
erreiche der Roman nicht in jeder Hinsicht. Zu diesem Gesamturteil kommt
Fontane, wenn er als gebildeter Schriftsteller das Werk Goethes beurteilt.
Schätzt er die „Lehrjahre“ aus der Sicht lesender Laien ein, bewertet er den
Roman als „langweilig“.[41]
(FONTANE, zit. nach BAHR 1982, 349)
Stilistisch wird vieles
vorgeprägt, was auch heute noch das Feuilleton kennzeichnet. Im Feuilletonismus
sticht die Subjektivierung der Kritik hervor, die der Kritiker Paul Lindau aus
seiner Zeit in Paris mitbringt, wo der Kritiker Jules Janin in den sechziger
Jahren den feuilletonistischen Stil mitgeprägt hat mit den Grundzügen: fehlende
Systematik, expansive Thematik, sinnliche Sprache.[42]
(BERMAN 1985, 210, Anm. 18) Gleichzeitig rückt Lindau ab von überkommenen poetischen
Ansprüchen und Regeln. Die Vorgehensweise der realistischen Kritik, die
vorgefertigte Regeln auf ein Werk anwenden will, wird bei Lindau abgelöst von
dem Bemühen, ein gelungenes Werk zu erkennen, das nicht unbedingt ein
regelrechtes sein muß. Auch Fontane lernt in London mit den
„Times“-Leitartikeln den Feuilletonstil kennen und als neue, moderne
Schreibweise schätzen[43]
und versucht ihn zu seinem eigenen zu machen, z.B. in seiner abwertenden
Besprechung von Gutzkows „Der Gefangene von Metz“, in der er den Inhalt
persifliert und aufgrund seiner entgegengesetzten politischen Position
ablehnend beurteilt. (BERMAN 1985, 216, Anm. 33)
Seit den achtziger Jahren
erfolgt zugleich mit der politischen Wende, die durch die Sozialisten-gesetze,
den Protektionismus und den beginnenden Antisemitismus gekennzeichnet ist, eine
Wende in Stil und Inhalt der Feuilletons. „In der imperialistischen
Gesellschaft erschien die ohnehin schon gebrochene Subjektivität des
Feuilletonisten als Enklave einer potentiellen Opposition, die durch
Integration in die kompakte Majorität der staatstreuen Bildungsschicht
entkräftet werden sollte.“ (BERMAN 1985, 217) Gültige Kunstgesetze sollen
wieder die Basis für Rezensionen liefern,[44]
wie auch die Gebrüder Hart -
Vertreter des Frühnaturalismus - fordern:
Gewiß
bilden, modificieren und erweitern sich wie alles übrige auch die ästhetischen
Anschauungen von einer Epoche zur andern, aber es gibt doch Principien, denen
keiner zu widersprechen wagt und die indirekt gleichwohl von der Kritik jeden
Augenblick über den Haufen gestoßen werden. (BERMAN 1985, 218, Anm 41)
Neben den naturalistischen
Varianten der Literaturkritik ist um die Jahrhundertwende auch eine extreme
Ästhetisierung der Kritik z.B. bei Alfred Kerr
beobachtbar. Die Kritik vermittelt nicht zwischen Kunst und Publikum, sondern
sie ist selbst Kunst: „Fortan ist zu sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik,
Dramatik und Kritik.“ (KERR; nach BERMAN 1985, 228, Anm. 61)
Der erbittertste Gegner des
Ästhetizismus in der Literaturkritik und damit auch Kerrs ist Karl Kraus, der in seiner Zeitschrift „Die
Fackel“ (1899-1936) einerseits die Korruption einer kommerzialisierten Presse
und andererseits die feuilletonistische Sprache und „Die Katastrophe der
Phrasen“[45] anprangert,
die besonders auch die österreichische Presse prägt.
Das heute in der deutschen
Literaturkritik nicht mehr gültige Kriterium ´politische Wirksam-keit´ ist
heftig umstritten: Nach der Spaltung der Arbeiterbewegung in den zwanziger
Jahren findet eine Teilung der Literaturkritik der proletarischen
Öffentlichkeit statt „in einen entpoliti-siert-ästhetischen Diskurs und den
wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus.“ (BERMAN 1985, 240) Im SPD-Organ
„Vorwärts“ wird die Kultur als den Klassenschranken übergeordnet betrachtet;
damit übernimmt man den bürgerlichen Standpunkt, wie er seit der Weimarer
Klassik akzeptiert ist: Dichtung ohne politische Komponente ist höher
einzuschätzen als politische Dichtung.
Aus der Sicht des
Marxismus-Leninismus hingegen beurteilt z.B. Otto Gotsche Willi Bredels Roman „Rosenhofstraße“ positiv aufgrund
der Wirklichkeitsnähe des Romans und des Wertes für die praktische politische
Arbeit: „Aber es kommt für uns nicht nur auf ‘künstlerische’ Gestaltung an,
sondern auf den Wert des Buches im Klassenkampf: Und da hat die
‘Rosenhofstraße’ hundertmal bessere Wirkung als zehn Flugblätter.“ (Nach BERMAN
1985, 246, Anm. 125)
Ideologische Wirksamkeit ist
ebenfalls das Hauptkriterium der von rechtsradikalen Kreisen unterstützten
völkischen Literaturkritik, die den Feuilletonismus ablehnt, weil er die Kultur
nicht ernst genug nehme. Im Vordergrund steht die deutsche Literatur, die sich
- auf das „Germanische“ ausgedehnt - auch Shakespeare einverleiben kann, ebenso
die regionalen Literaturen. Dabei wird der Kritiker zum berufenen Propheten der
kulturellen Erneuerung, der ästhetische Theorien nicht nötig hat.
Genau die entgegengesetzte
Sichtweise vertritt Bertolt Brecht, der dem Publikum den aktiven Part des
Kritikers zuweist. Damit gerät er zwangsläufig in Gegensatz zu Alfred Kerr, der
seinerseits auch Brechts literarisches Programm ablehnt. Brecht polemisiert
gegen die seiner Meinung nach kulinarische Kritik der Rezensenten, die damit
nur die bürgerlich-kapitalistische Herrschaft über das Theater beibehalten
wollten. Die bürgerliche Kritik bestätige den herrschenden Geschmack, indem der
Kritiker die Rolle des „Vorschmeckers“[46]
einnehme. (BERMAN 1985, 262, Anm. 178) Das mündige, kritikfähige Publikum solle
von der Theaterkritik übergehen zur Gesellschaftskritik, um die Gesellschaft zu
verändern.
Die Krise der Kritik seit
den Jahren des Nachmärz macht jedoch auch den Weg frei für die Kulturpolitik
der völkischen und (prä)faschistischen Rechten, die die Moderne grundsätzlich
ablehnen. Ernst Bloch schreibt 1937 in einer Analyse des
nationalsozialistischen „Verbots des Kunstkritik“ vom 26. November 1936
rückblickend auf die Voraussetzungen der national-sozialistischen
Kulturpolitik: „Weniges war verrotteter als die Kunstkritik im letzten
Abschnitt des bürgerlichen Zeitalters, weniges so beliebig, so
verantwortungslos, so einflußreich und unwiderruflich zugleich.“ (ZIMMERMANN
1985, 276, Anm. 2) So wird der Literaturbegriff der Rechten prägend. Er
zeichnete
sich durch einen ressentimentgeladenen Antiintellektualismus aus, der die künstlerischen
Entwicklungen des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts als
Ausdrucksformen eines biologischen Verfalls und geistiger Dekadenz, kurz, als
„entartete Kunst“ ansah. Von allen ästhetischen Ausdruckstraditionen der
Moderne, die sich seit der Jahrhundertwende im deutschsprachigen Raum
ausgebildet hatten, blieb nur der geistesaristokratische Antimodernismus Stefan
Georges [...] vom Dekadenzverdikt der profaschistischen Rechten ausgespart.
(ZIMMERMANN 1985, 277)
Echte Kritik, die nach
faschistischer Ideologie jüdischem Intellektualismus zugerechnet werden müsse,
gibt es in den Zeitschriften, die vom Parteiapparat des NSDAP abhängig sind,
nicht mehr, es gibt nur noch die Vernichtung der gegnerischen Literatur und
Position.
Auslese und Wertung werden
nicht der Kritik überlassen, sondern schon vorab durch die Reglementierung des
literarischen Lebens vollzogen, so daß die „Kritik“ nur noch die Aufgabe hat,
die ideologiekonformen Werke lobend publik zu machen. Schon vor dem offiziellen
Verbot der Kunstkritik ist das literarische Leben gleichgeschaltet.
Buchbesprechungen rücken teilweise sogar auf die erste Zeitungsseite, was
äußerlich einer Aufwertung des Feuilletons gleichkommt, im Grunde jedoch einen
Mißbrauch der Literatur“kritik“ für politische Zwecke bedeutet, um für die
staatlichen Ziele auch intellektuelle Kreise zu gewinnen. Die
Ausführungs-bestimmungen zum Rezensionswesen vom Dezember 1936 regeln nach dem
Verbot der Kunst-kritik vom 26. November 1936 unter anderem auch den
inhaltlichen Aufbau der Buchbespre-chungen durch die Kritiker, die sog.
„Kunstdiener“; gemäß der Vorgaben müssen Buch-besprechungen immer eine
Inhaltsangabe enthalten und eine Angabe über den politischen Stel-lenwert des
Buches. STROHTMANN abstrahiert folgendes Schema:
1.
Begutachtung des Buchinhalts in Form einer mit Zitaten erweiterten, ausführlichen
Nacherzählung, 2. Prüfung der ideologischen Übereinstimmung des Buches mit den
Weltanschauungsthesen, 3. Randbemerkungen über Stil und Form, 4. Empfehlungs-
oder Ablehnungsformel, 5. Angabe der Einsatzrichtung. (Nach ZIMMERMANN 1985,
283, Anm. 17)
Daß die zensierten
Veröffentlichungen nur dann politisch wirklich wirksam gewesen wären, wenn sie
nach außen als freie Meinungsäußerung hätten gelten können, war auch den
Zeitgenossen klar.[47]
Die wichtigsten Inhalte der
Literaturkritiken in den Exilzeitschriften sind: ideologiekritische Analyse der
NS-Literatur einschließlich Formanalyse, kritische Analyse der entstehenden
Exilliteratur, Diskussion um eine Ästhetik, die dem antifaschistischen Kampf
entspricht. Marxistisch ausgerichtete Exilzeitschriften, z.B. die
„Internationale Literatur“ und „Das Wort“, beschäftigen sich seit 1936 auch mit
dem Problem der Aneignung des literarischen Erbes und ab 1937 mit der Frage
nach Möglichkeiten eines kulturellen Neuaufbaus und dem Problem einer durch den
Faschismus diskreditierten deutschen Sprache.
Nach dem Zusammenbruch
Hitler-Deutschlands sind Buch und Kultur zunächst Luxusartikel, die man sich im
Kampf um das tägliche Überleben kaum leistet. Die neue Buchproduktion steht im
Zeichen der re-education durch die Siegermächte. Gesteuert wird die
Produktion durch die Papierzuteilung. In den Zeitschriften und Zeitungen spielt
vor der Entstehung der beiden deutschen Staaten Literaturkritik keine Rolle.
Typisch für die frühen
fünfziger Jahre ist der Versuch, durch betont apolitische Literaturkritik der
Bewältigung der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen.[48]
Dabei wird besonders der künstlerische Charakter der Kritik betont. Parallel
zur apolitischen Kritik wird in der akademischen Literaturwissenschaft die
werkimmanente Methode favorisiert[49]
oder eine Beschäftigung mit zeitgenössischer Literatur rundweg abgelehnt,
nachzuweisen u.a. an Emil Staigers Beispiel, dem Auslöser des Zürcher
Literaturstreites.
Den Gegenpol bilden die
Kritiker, die der Gruppe 47 nahestehen, wie z.B. Walter Jens, Joachim Kaiser,
Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki. Auch wenn Kritik weiter als persönliche
subjektive Angelegenheit des Kritikers in der Tradition der Aufklärung
verstanden wird, wird der Publikumsbezug von ihnen ebenso reflektiert wie die
gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen.
In der zweiten Hälfte der
sechziger Jahre werden einerseits Reformversuche der Kritik reflektiert, wie in
Peter Glotz’ Untersuchung „Buchkritik in deutschen Zeitungen“ (1968),
andererseits der Tod der Kritik von Seiten der Neuen Linken und ihrer radikalen
Kulturkritik verkündet, wie im „Kursbuch 15“ (1968) von Walter Böhlich, Karl
Markus Michel, Yaak Karsunke und Hans Magnus Enzensberger.
In den siebziger Jahren ist
trotz eines erweiterten Kulturbegriffs, der auch zu Rezensionen von Simmel,
Konsalik und angelsächsischen Bestsellern führt, der Profilierungszwang der
Kritiker geblieben, der weiterhin die Insider-Rhetorik vorantreibt.[50]
DIMPFL (1981, 106f.) ist
zuzustimmen, wenn sie die aktuelle Funktion publizistischer Buchkritik (s.o.
Kap. 2) folgendermaßen zusammenfaßt: 1. Auswahl im Überangebot des Buchmarkts.
2. Gesprächs- und Diskussionsstoff für die am aktuellen literarischen Leben
Interessierten und die am Literaturbetrieb teilnehmenden Fachleute. 3.
Herausbildung kurzfristig aktueller literarischer Normen und Urteile. Dabei ist
zu klären, wie die zuletzt genannte Funktion sprachlich realisiert werden kann.
Nächstes
Kapitel: Teil 2 - 1) Vorbemerkung: Sprache und Wertung
[1] Er berücksichtigt in seinem Kritik-Begriff ebenfalls das allgemeine Unterscheidungsvermögen und das ethisch-praktische Urteilsvermögen und meint mit ‘Kritik’ „das Urteil des Gebildeten im Gegensatz zu der begrenzten Beurteilung eines Sachverhalts durch den Sachverständigen“ (HOLZHEY 1976, 1251). „Die Wortgruppe [=Kritik, Krise] ist im Deutschen seit dem 18. Jh. belegt. Bei BACON taucht das Wort <critic> in der Bedeutung ´Literaturkritiker´ auf. Bei HOBBES meint es den Editor. Im Französischen ist <critiquer> seit dem 16., <critique> (wie <critica> im Ital. und Span.) seit dem 17. Jh. belegt.“ (SCHALK 1976, 1282)
[2] Mit der Wertsprache der Erlebnisdichtung, die in der Literaturwissenschaft lange Zeit vorherrschte, können die Merkmale der barocken Dichtung nicht adäquat erfaßt werden. So kam es zur Verurteilung des Literatur des Barock als künstlich, artistisch und ohne eigenen Erlebnisausdruck. Erst in der Epoche des Expressionis-mus kamen Nietzsche und dreißig bis vierzig Jahre später auch anderen Autoren und Literaturwissenschaftler über ihr eigenes vitalistisches Empfinden zu einer zwar nicht adäquaten, aber doch hochwertenden Ansicht be-züglich der Sprache der Barockliteratur. Günter Müller (vgl. BARNER 1970, 27ff.) hatte 1925 die rhetorischen Grundlagen des Barock in vollem Umfang erkannt, den öffentlichen, zweckgebundenen und rhetorischen Cha-rakter der Barockliteratur, und er nahm dennoch an, daß auch das Aussprechen persönlichsten Erlebens im Rahmen der rhetorischen Formen möglich sei. Erst im Laufe der 60er Jahre wurde die Rhetorik auch im Bezug auf die Wertung der Barockliteratur erforscht, und es kam zu einer Würdigung dieser literarischen Epoche.
[3] Vgl. Teil 2, Kap. 7: Intellekt
[4] Vgl. Teil 2, Kap. 6: Spannung/Unterhaltung
[5] Vgl. Teil 2, Kap. 9: Gefühl
[6] Vgl. Teil 2, Kap. 10: Genauigkeit/Klarheit
[7] Vgl. Teil 2, Kap. 7: Intellekt
[8] Vgl. Teil 2, Kap. 9: Gefühl
[9] KANT (1974, 115): „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ [Herv. KANT]
[10] Vgl. BAEUMLER (1981, 281): „Der allgemeine Gesichtspunkt ist ein Ersatz für die strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit im Theoretischen. Er ermöglicht die Kritik. Denn was ist Kritik anderes als ein Beurteilen von einem allgemeinen Standpunkt, der der einer Gesetzmäßigkeit, aber nicht des Gesetzes ist? Alle Kritik beruht auf der Möglichkeit, einen Standpunkt einzunehmen, der allen Urteilenden gemeinsam werden kann, ohne doch begrifflich festgelegt zu sein.“ [Herv. BAEUMLER]
[11] LESSING: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, [...]“ im Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai (hg. von J. SCHULTE-SASSE (1972) München, 55).
[12] Die Ästhetik der Empfindsamkeit beinhaltet das verwandte Kriterium der Rührung und wendet es auf alle Gattungen an. Moderne Kritiker weisen u.a. auf das Kriterium des - beim Leser ausgelösten - GEFÜHLs (vgl. Teil 2, Kap. 9).
[13] Vgl. Teil 2, Kap. 5: Originalität/Innovation
[14] J. G. HERDER (1877): Sämtliche Werke, hg. v. B. SUPHAN. Berlin. Bd. 3, 232; zit. nach WEBER (1976, 1289)
[15] J. G. HERDER (1877): Sämtliche Werke, hg. v. B. SUPHAN. Berlin. Bd. 18, 138; zit. nach WEBER (1976, 1289)
[16] J. G. HERDER (1877): Sämtliche Werke, hg. v. B. SUPHAN. Berlin. Bd. 1, 246; zit. nach BERGHAHN (1985, 53)
[17] Fr. SCHLEGEL (1957): Lit. notebooks 1797-1801, hg. H. EICHNER, London, 126; zit. nach WEBER (1976, 1290).
[18] Vgl. Teil 2, Kap. 4: Können/Ingeniosität
[19] Dieses Kriterium ist in heutigen Kritiken nicht nachweisbar.
[20] Vgl. Teil 2, Kap. 3
[21] Poststrukturalistisch wäre die Ganzheit ein negativ besetzter Wert, da die Interpretation eines Textes hinsichtlich der Stimmigkeit bzw. eines Sinnes entweder den Text als Herrschaftsinstrument entlarvte oder Gewalt gegen den Text bedeutete.
[22] Vgl. Teil 2, Kap. 3: Künstlerischer Wert, Echtheit, Substanz
[23] BÜRGER entgegnete der Kritik, er wolle nach seinen eigenen Prämissen beurteilt werden, nicht nach SCHILLERs allgemeinen Kunstgrundsätzen. Man könnte dies auch schon als eine Wendung der Haltung des frühen 19. Jahrhunderts (Subjektivismus) gegen die Ästhetik des 18. Jahrhunderts interpretieren.
[24] Vgl. Fr. SCHLEGEL (1958ff.): [KA=] Krit. Ausgabe, hg. v. E. BEHLER, München u.a.. Bd. 2, 411: „Wahre Kritik [dürfe] gar keine Notiz nehmen von Werken, die nichts beitragen zur Entwicklung der Kunst und der Wissenschaft“. (Zit. nach SCHULTE-SASSE 1985, 81)
[25] Fr. SCHLEGEL (1958ff.): KA 2, 83 (Zit. nach SCHULTE-SASSE 1985, 80)
[26] Vgl. HOHENDAHL 1985, 141, Anm. 47
[27] Fr. SCHLEGEL (1958ff.): KA 2, 162 (Zit. nach WEBER (1976, 1290)).
[28] Daher wird das klassische Kriterium der Ganzheit in der Romantik modifiziert als Gefugtsein aus Spannungen oder im fast schon modernen Sinn aufgegeben zugunsten der positiven Wertung des Fragmentarischen und Brüchigen.
[29] Deshalb lassen sich alle in unserer Arbeit herausgefilterten Kriterien auch in der Romantik finden. Gemäß der romantischen Position ist der höchste literarische Wert ein ästhetischer: „Kunst als autonome Ko-Produk-tion von ‘Genie’ und ‘genialen’ Lesern“. Wirkung hat das literarische Werk zu erreichen „durch Reflexion der Form (Schlegel), durch ‘romantische’ Inhalte (Novalis) Stimulation von ‘unendlicher’ Erkenntnis (kognitive, kritisch-ethische, ‘religiös-transzendentale’ Werte) in Spannung von ‘Harmonie und Dissonanz’ als ‘Genuß’ (hedonistische Werte) [...]“ (VON HEYDEBRAND/WINKO 1996, 211)
[30] Die in der Literaturwissenschaft übliche Epocheneinteilung wird für die Literaturkritik übernommen, auch wenn „die breiter angelegte Praxis der Literaturkritik schwerer zu überschauen und zu erfassen“ ist (HOHENDAHL 1985, 129). Eine Epocheneinteilung ist auf die von der Geschichtsschreibung übernommene Textauswahl der zeitgenössischen Leser angewiesen und kann nicht die Masse der Rezensionen in den sich schnell vermehrenden Publikationsorganen berücksichtigen.
[31] G. G. GERVINUS (1962): Schriften zur Literatur, hg. G. ERLER, 156; zit. nach WEBER (1976, 1291). Auch GLASER (71983) verweist auf die „scharfe Trennungslinie zwischen literarischer Kritik und Literaturgeschichte“, die GERVINUS 1833 gezogen hatte.
[32] Nach Ludwig Börne (1826, nach HOHENDAHL (1985, 132, Anm. 9)) lassen sich „deutsche Rezensionen [...] in der Kürze mit nichts treffender vergleichen als mit dem Löschpapier, auf dem sie gedruckt sind.“
[33] Politische bzw. allgemein weltanschauliche Kriterien sind im Textkorpus vorliegender Arbeit nicht erkenn-bar.
[34] Heinrich LAUBE (1830) schreibt in der „Zeitung für die elegante Welt“: „Wir leben in einer kritischen Epoche. Alles ist in Frage gestellt, das große Examen der Welt hat nach langer Zeit begonnen.“ (Nach HO-HENDAHL 1985, 144, Anm. 58)
[35] Vgl. Teil 2, Kap. 5: Originalität/Innovation
[36] Im Idealismus geht man den umgekehrten Weg; die Wirklichkeit wird ins Ideal aufgehoben. Dennoch ist das realistische Programm ohne den Einfluß des Idealismus, der durch Vischer vermittelt wurde, undenkbar.
[37] Vgl. Teil 2, Kap. 11: Anschaulichkeit
[38] Vgl. Teil 2, Kap. 6: Spannung/Unterhaltung
[39] Vgl. Teil 2, Kap. 11: Anschaulichkeit
[40] Vgl. Teil 2, Kap. 10: Genauigkeit/Klarheit, Kap. 11: Anschaulichkeit
[41] Vgl. Teil 2, Kap. 6: Spannung/Unterhaltung
[42] LINDAU: „Er [=Janin] schrieb nieder, was ihm gerade einfiel - und es fiel ihm immer etwas ein -, wenn es auch mit dem Gegenstande, über den man etwas von ihm hören wollte, herzlich wenig oder gar nichts zu schaffen hatte. Er nahm seinen Leser gemütlich unter den Arm und ging mit ihm spazieren. Auf der breiten Straße blieb er nicht lange. Er schlug bald einen Seitenweg ein, in den ein neuer Abweg mündete. Der mußte auch mitgenommen werden. Und dann noch ein kleiner schattiger Pfad, wo sich’s hübsch ungestört über alles mögliche plaudern ließ. Aufs Plaudern verstand er sich wie kaum ein zweiter.“ (Nach BERMAN 1985, 211, Anm. 20)
[43] FONTANE: „Der „Times“-Leitartikel ist der völlige Sieg des Feuilletonstils über die letzten Reste des Kanzleistils und ähnlicher mißgestalteter Söhne und Töchter lateinischer Klassizität. Lange Perioden sind verpönt; rasch hintereinander, wie Revolverschüsse, folgen die Sätze. Der Schreiber, wenn er ausnahmsweise gründliche Kenntnis hat, ist strikt gebunden, seinen Schatz zu vergraben und höchstens anzudeuten, daß er ihn überhaupt besitzt. Wissen und Details dürfen sich nicht breit machen. Der gut geschriebene „Times“-Leitartikel ist eine Arabeske, die sich graziös um die Frage schlingt, ein Zierat, eine geistreiche Illustration; er ist kokett und will gefallen, fesseln, bezwingen, aber es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeit hin überzeugen zu wollen. Er übt kein Richteramt, auch wenn er sich gelegentlich die Miene gibt; er ist ein Advokat und ficht weniger für die Wahrheit als für seinen Klienten. Daß er die Miene der Unfehlbarkeit annimmt, beweist nur, wie wenig sicher er sich fühlt. Er will nichts erschöpfen, er will nur anregen, er wendet sich an die bestechliche Einbildungskraft, nicht an den nüchternen Verstand.“ (Nach BERMAN 1985, 213, Anm. 26)
[44] BERMAN (1985, 218) verweist auf die Parallelität der Grundform der wilhelminischen Herrschaft mit der gewünschten Form der Rezensionen: „Dieses hartnäckige Festhalten an der Vorstellung von Gesetzen, denen nicht zu widersprechen sei, stimmte überein mit der zentralen Tendenz der nachliberalen Kultur: der Ausschaltung autonomer Kritik. Das Bild von Kunstgesetzen, die logisch angewendet werden sollten, aber willkürlich aufzustellen und nicht zu untersuchen wären, entsprach somit der Grundform wilhelminischer Legalität: rationale Herrschaft ohne vernünftige Begründung.“
[45] KRAUS, K. (1956): Widerschein der Fackel. Glossen. München, 9ff.
[46] Vgl. Teil 2, Kap. 1: kulinarische Metaphern
[47] In einem Rechenschaftsbericht an das Propagandaministerium werden die negativen Auswirkungen des Kritikverbots folgendermaßen geschildert. „1. Die Urteilsfähigkeit des Publikums wird unsicher. Der Geschmack des Publikums kann auf diese Weise nicht mehr geführt werden. 2. Der Unterschied der künstlerischen Leistung tritt nicht mehr genügend in Erscheinung. [...] Gerade die befähigten Köpfe in der Kunst fühlen sich durch die gleichmäßige Behandlung nicht befriedigt [...] 3. Die Kunstbetrachtung gerät in Gefahr, von der Kunstproduktion als eine Art Werbeinstitut angesehen zu werden. Es geht daher auch nicht an, mit dem Hinweis auf das Verbot der Kunstkritik dem Kunstbetrachter eine Rolle zuzumuten, die man im allgemeinen einem Reklamechef überträgt.“ (Nach ZIMMERMANN 1985, 284, Anm. 20) Auffällig ist ein Wandel der Kriterien und Empfehlungen in der Literaturkritik nach der militärischen Katastrophe bei Stalingrad 1942, als auch Goebbels erkennt, daß apolitische leichte Unterhaltungsliteratur statt linientreuer NS-Literatur ablenken und trösten kann und somit in den Dienst der Politik gestellt wird.
[48] KOOPMANN (1983, 360) bemerkt bezüglich der Entwicklung von Stil und Normen der Kritik eine Tendenz zum Wertrelativismus: „Im 20. Jahrhundert scheint an die Stelle der ästhetischen Normen des 18. und der Begründung des literarischen Urteils durch die Individualität im 19. Jahrhundert die Emphase als Darstellungsprinzip der Kritik getreten zu sein: die Rezension will nicht durch Grundsätze überzeugen, sondern durch beharrlichen Nachdruck und Exaltation.“
[49] DEMETZ (1964, 818) bemerkt zu diesem Problem, er habe „oft als Beobachter den Eindruck gehabt, daß die deutsche werkimmanente Interpretation die Tätigkeit gebrannter Kinder ist. Oft hat man den Eindruck, hier ist ein Mann, der während der Hitlerzeit durchaus nicht werkimmanent interpretiert hat und der sich nach 1945 in den elfenbeinernen Turm der Kunst an sich oder des Wagnisses Sprache flüchtet.“
[50] Vgl. Teil 1, Kap. 2.3