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Im Zentrum der Arbeit stehen als zwei Werke der hochmittelalterlichen Moraldidaxe: der ‚Welsche Gast‘ sowie die in zeitlicher Nähe entstandenen ‚Winsbeckischen Gedichte‘. Bei aller formalen Unterschiedlichkeit der Texte werden sie dadurch geeint, dass sie sowohl männliches als auch weibliches Verhalten thematisieren, wobei der ‚Welsche Gast‘ in seiner Herren- und Fürstenlehre auch ein älteres Publikum anspricht, während sich die Hofzucht des ‚Welschen Gasts‘ sowie ‚Winsbecke‘ und ‚Winsbeckin‘ auf heranwachsende Adlige beschränken.
Ziel ist es, die Konstruktion von Geschlecht aufzudecken, wobei Analysemethoden der modernen sozialphilosophischen Forschung zum Einsatz kommen. Michel Foucault bietet mit seiner Diskursanalyse ein probates Mittel, gesellschaftliche Zustände und die Konstruktion von Identitäten aufzudecken. Die amerikanische Philosophin Judith Butler greift bei ihren Überlegungen zur Konstruktion von Geschlecht unter anderem auf Foucault zurück und zeigt auf, welche Mechanismen bei der Gestaltung geschlechtlicher Identitäten wirksam werden.
Die Verknüpfung moderner Theorie mit mittelalterlicher Moraldidaxe erweist sich insofern als fruchtbar und sinnvoll, als gerade mittelalterliche (und – diskursiv tradiert – auch ältere) Vorstellungen von Geschlecht bzw. rollenadäquatem Verhalten ihren Niederschlag noch in moderner Ratgeberliteratur (z. B. Mädchenerziehungsschriften der 1950er Jahre) finden.
So kann als Mittel der Analyse auf die von Judith Butler inspirierte Gendertheorie zurückgegriffen werden kann, ohne die Gegebenheiten der mittelalterlichen Literatur und die Restriktionen der Gattung zu vernachlässigen.
Zu diesem Zweck werden in der Arbeit – anders als bislang üblich – die Gesamttexte (und nicht nur besonders auffällige ‚Stellen‘ der Didaxen) hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Bilder von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit formal und inhaltlich untersucht. Beim ‚Welschen Gast werden zudem die zahlreichen Visualisierungen in die Einzelanalysen und bei den
‚Winsbeckischen Gedichten‘ nicht nur der an Männer und der an Frauen gerichtete Teil, sondern auch die Parodie des Winsbecken miteinbezogen.
Nach einer ausführlichen Klärung der theoretischen und literaturwissenschaftlichen Voraussetzungen (Gender und Genderforschung, Performativität und Performanz, lehrhafte Dichtung im Mittelalter) wird das Korpus nach den Gesichtspunkten
• Redeverhalten
• Körperverhalten
• Emotionales Verhalten, Tugenden und Laster
untersucht und die Ergebnisse in einem Schlußkapitel zusammengefasst.
Die Studie knüpft an das Interesse der feministischen Literaturwissenschaft an, berücksichtigt aber das geschlechterübergreifende Genderkonzept und würdigt im Sinne eines close reading explizit den literarischen Charakter der Texte (strukturelle Performativität) sowie den symbolischen der Abbildungen. Im Ergebnis können Spielräume der grundsätzlich an patriarchaler Hierarchie und ständischer Stabilität orientierten Gattung im Hinblick auf die Genderfrage ausgemacht werden, die Ausbrüche aus den vorgegebenen und damit intelligiblen Rahmungen ermöglichen (z.B. bei den verwendeten Metaphern), aber auch ‚Rückschritte’ demonstrierten (z.B. bei der in einzelnen Illustrationen erkennbaren, im begleitenden Text aber nicht nachweisbaren Misogynie).
Dennoch wird ein männlicher Blick auf eine Welt deutlich, in der die Frau meist als schmückendes Beiwerk fungiert, deren Handlungsmacht sich auf das ‚Häusliche‘ beschränkt. Raumanmaßung steht nur Männern offen, wobei der Radius der Handelnden von Alter und Stand beschränkt wird.