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Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden im Rahmen der „T4“-Aktion sowie der anschließend stattfindenden dezentralen Krankenmorde hunderttausende psychisch kranke und behinderte Menschen getötet. Auch Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Lohr am Main wurden nach vorherigen Selektionen in Tötungsanstalten deportiert und dort ermordet. Der Einfluss der Pflegenden auf die ärztliche Dokumentation, welche einen relevanten Einfluss auf die Auswahl der getöteten Menschen hatte, war erheblich. Die Studie befasst sich unter anderem mit dem Psychiatriealltag in der Heil- und Pflegeanstalt Lohr am Main zur Zeit des Nationalsozialismus, den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kranken sowie des Personals, den therapeutischen Ansätzen mit dem Schwerpunkt Arbeitstherapie, der Analyse von Einzelschicksalen der psychisch kranken Bewohnerinnen und Bewohner, der Vergabehäufigkeit der todbringenden Diagnose „Schizophrenie“ nach den Deportationen 1940 sowie der Vermutung, dass auch in Lohr am Main nach der Beendigung der „T4“-Aktion dezentrale Krankenmorde stattfanden.
Die Studie untersuchte die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Umgang mit alkohol- und psychisch kranken Patienten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Würzburg.
2014 wurden die Patientenakten und Standbücher der Universitätsklinik der Jahre 1888 bis 1944 erstmalig zu Studienzwecken freigegeben, die Ergebnisse dieser Studie wurden vor dem Hintergrund der Forschungsliteratur diskutiert.
Die Studie betrachtete die unterschiedlichen Epochen- Industrialisierung, Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg - und insbesondere die Trinkerfürsorge sowie die Geschlechtergeschichte der Psychiatrie jener Epochen. Ebenso wurde auf die spezielle Rolle der Universitätspsychiatrie eingegangen.
Die Analysen ergaben, dass Alkoholismus bei Frauen verurteilt, bei Männern beschönigt und entschuldigt wurde. Frauen wurden stark nach ihrem Lebenswandel und etwaigen“ moralischen Verfehlungen“ beurteilt, bei Männern wurde dies kaum berücksichtigt. Psychische Leiden bei Frauen wurden häufig mit hormonellen oder sexuellen Ursachen in Verbindung gebracht, bei Männern gab es kein analoges Erklärungsmuster. Es bestand eine sehr hohe Toleranzschwelle für häusliche Gewalt gegenüber alkoholkranken Patientinnen. Gutachten ärztlicherseits befürworteten meist Ehescheidung und Entmündigungen von alkoholkranken Patienteninnen, bei männlichen Alkoholkranken erfolgte dies nur bei massiver Beweislast. Die Analysen ergaben einen oft herablassenden und teils respektlosen Umgang mit allen psychiatrischen Patienten, jedoch mit standes- und geschlechtsspezifischen Unterschieden. Patientinnen wurden insgesamt respektloser behandelt als männliche Patienten, speziell wenn sie den „unteren Ständen“ angehörten und ihr Lebenswandel nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entsprach.
Alkoholkranke waren niemals primäres Ziel der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik. Da Alkoholkranke meist arbeitsfähig waren, waren sie selten Opfer von Zwangsterilisationen, und soweit arbeitsfähig, auch nicht Opfer von dem gezielten Hungersterben in den Anstalten oder der „Aktion T4“.
Die Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Würzburg nahm als Universitätsklinik im Lichte der Öffentlichkeit eine besondere Rolle ein. Sie war von wirtschaftlichen Zwängen kaum betroffen, Arbeitstherapie war zwar Teil des klinischen Alltags, jedoch weit weniger intensiv als in den Anstalten und Arbeitshäusern. Es ergab sich kein Hinweis auf „Hungerkost“ während der beiden Kriege, es gab keine direkten Transporte in die Tötungsanstalten im Rahmen der „Aktion T4“ und es ergaben sich keine Hinweise auf Experimente an psychiatrisch erkrankten Patienten an der Würzburger Lehrklinik.