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In der vorliegenden Arbeit wurden Lautäußerungen von Säuglingen mit orofazialen Spalten im Alter von der 9. bis zur 16. Lebenswoche untersucht. In diesem Alter treten erste prä-artikulatorische Phänomene auf, die den Übergang von der anfänglich nur durch phonatorische Mechanismen bestimmten Lautproduktion zur phonatorisch-artikulatorischen Lautproduktion charakterisieren. Dies ist ein essentieller Entwicklungsschritt für die spätere Sprechfähigkeit. Orofaziale Spalten gehen häufig mit späteren Sprech- und Sprachstörungen einher. Dies äußert sich z. B. in einer Nasalisierung von Vokalen (Hardin und Grunwell, 1998; Kummer et al., 1992). Sprech- und Spracherwerb beginnen nicht erst, wenn die ersten Worte produziert werden, sondern faktisch unmittelbar nach der Geburt. Wesentliche Komponenten der für das spätere Sprechen erforderlichen, fein kontrollierten Abstimmung zwischen respiratorischen, phonatorischen und artikulatorischen Mechanismen werden bereits im Verlauf des ersten Lebensjahres erworben. Das für eine unauffällige Sprechentwicklung erforderliche vorsprachliche Entwicklungsprogramm erreicht im Alter von drei bis vier Monaten eine kritische Phase. Nachdem im Weinen der ersten beiden Lebensmonate die Abstimmung zwischen respiratorischen und phonatorischen Prozessen „geübt“ wurde und im Ergebnis zunehmend komplexere Schreimelodien und rhythmische Lautvariationen erzeugt werden, beginnt mit drei bis vier Monaten (Wermke et al., 2005) die Abstimmung zwischen Phonation und Artikulation. Das erfolgreiche Absolvieren dieses bedeutsamen Entwicklungsschrittes ist möglicherweise eine Grundvoraussetzung für eine nachfolgende unauffällige Sprach- und Sprechentwicklung. Säuglinge mit orofazialen Spalten sind bezüglich dieser Entwicklung aufgrund ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Vokaltraktmalformationen und der damit verbundenen Funktions-einschränkungen der orofazialen Muskulatur erheblich benachteiligt. Durch die Auswertung von 871 Lautäußerungen von 12 Säuglingen mit orofazialen Spalten konnten prä-artikulatorische Vorgänge bei diesen Kindern erstmalig quantitativ charakterisiert werden. Dazu wurden Spektralanalysen, Melodieanalysen und Resonanzfrequenzanalysen durchgeführt und relevante Parameter berechnet. Die Untersuchung basiert auf dem durch Voruntersuchungen erarbeiteten Konzept, dass die Entwicklung der Artikulation mit einer Abstimmung (Tuning) zwischen laryngeal erzeugter Melodie und im Vokaltrakt erzeugten Resonanzfrequenzen beginnt. Im weiteren Verlauf der Entwicklung kommt es zu schnellen Übergängen von Resonanzfrequenzen zwischen den Harmonischen und der Melodie (Wermke et al., 2005). Auf diese Weise werden erste vokalähnliche Laute erzeugt und die für das spätere Babbeln erforderlichen Vorübungen absolviert. Die Auswertung dieser Entwicklungsschritte bei den hier untersuchten Schreien von Säuglingen mit orofazialen Spalten zeigte eine leichte Entwicklungsverzögerung dieser Kinder im Vergleich zu einer altersgleichen Kontrollgruppe von Säuglingen ohne orofaziale Spalten. Erstmalig konnten aber in der vorliegenden Arbeit solche Verzögerungen durch geeignete Messgrößen quantitativ charakterisiert werden. Neben einer generellen Entwicklungsverzögerung bezüglich erster artikulatorischer Aktivitäten der Spaltgruppe, gegenüber der zu Referenzzwecken herangezogenen Kontrollgruppe, wurden aber gleichzeitig große interindividuelle Unterschiede zwischen den Säuglingen mit orofazialen Spalten gefunden. Dies war zu erwarten, da Individuen mit orofazialen Spalten eine sehr heterogene Population darstellen, die darauf beruht, dass eine orofaziale Spaltbildung keine spezifische Erkrankung, sondern vielmehr ein Symptom vieler möglicher gestörter Entwicklungsprozesse darstellt. Selbst innerhalb einer Gruppe von Kindern gleichen Spalttyps gibt es teilweise erhebliche interindividuelle Entwicklungsunterschiede. Ein zu Beginn der Studie erwarteter Einfluss der Platte auf die beginnende vorsprachliche Artikulation konnte aufgrund der vorliegenden Datenbasis und der o. g. interindividuellen Unterschiede nicht nachgewiesen werden.
Der Einfluss der kieferorthopädischen Frühbehandlung auf den vorsprachlichen Lauterwerb von Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten ist bislang nur ungenügend untersucht. Um zukünftig Entwicklungsstörungen in Bezug auf den Sprech- und Spracherwerb bei Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten früher als bisher zu diagnostizieren, sind prospektive Längsschnittstudien, die engmaschig vorsprachliche und sprachliche Entwicklungsschritte doku-mentieren, unerlässlich. Im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie wurde die vorsprachliche Lautentwicklung von sechs Säuglingen mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten in den ersten sechs Lebensmonaten aufgezeichnet und analysiert. Um dabei einen Zusammenhang zwischen ausgewählten Lautparametern und der Oberkieferplatte aufzuzeigen, wurden zu jedem Untersuchungstermin Aufnahmen mit und ohne eingesetzte Platte gemacht. Voraussetzung für die objektive Beurteilung des Lauterwerbs und des Platteneinflusses waren zeitlich dichte Schreiaufnahmen mittels qualitativ hochwertiger Aufnahmetechnik und standardisierter Analysen. Die Signal-analyse erfolgte unter Verwendung des CSL-4300 Sprachanalysesystems der Firma KAY Elemetrics/ USA. Es wurde eine Analyse der mittleren Grundfrequenz (F0), der Harmonischenstruktur und der Kurzzeitvariabilität der Grundfrequenz (PPQ) von Säuglingsschreien durchgeführt. Diese Pilotstudie konnte anhand von 3399 analysierten Schreien zeigen, dass das Auftreten von Rauschbanden in den Schreien bei Lautaufnahmen mit eingesetzter Oberkieferplatte im Vergleich zu Lautaufnahmen, die ohne Oberkieferplatte aufgenommen wurden, signifikant verringert ist. Außerdem konnte ein direkter Zusammenhang der Spaltbreite mit der Differenz des Ausmaßes solcher Rauschbanden und der Häufigkeit ihres Auftretens in Abhängigkeit vom Tragen der Oberkieferplatte beobachtet werden. Um eine objektive Beurteilung der Länge von Rauschbanden über eine beliebig große Anzahl von Lautäußerungen zu ermöglichen, wurde ein einfacher klinisch praktikabler Rauschindex entwickelt und getestet. Dieser Rauschindex war bei Lautäußerungen mit eingesetzter Platte bei allen Kindern kleiner als bei Lautäußerungen ohne Platte, was neben dem absolut verringerten Auftreten von Rauschbanden auch einen kleineren relativen Anteil dieser Rauschbanden bei Lautierungen mit Oberkieferplatte belegt. Der Rauschindex hat sich als geeignetes Maß zur einfachen Charakterisierung der Klangqualität erwiesen. Ein Zusammenhang zwischen vorsprachlich verstärkt auftretenden Rausch-phänomenen und der späteren Nasalität beim Sprechen wird diskutiert. Darüber hinaus werden Vorschläge zur Verwendung des Index bei der Plattenanpassung formuliert. Außerdem konnte eine signifikante Verringerung der Kurzzeitvariabilität der mittleren Grundfrequenz bei eingesetzter Oberkieferplatte im Vergleich zu Lautaufnahmen ohne Oberkieferplatte nachgewiesen werden. Eine mögliche Abhängigkeit der mittleren Grundfrequenz von der Oberkieferplatte zeigt sich ab dem fünften Lebensmonat. In der vorliegenden Untersuchung erwies sich der dritte Lebensmonat als besonders sensibler Zeitpunkt der vorsprachlichen Entwicklung in Bezug auf die stimmliche Regulationsfähigkeit. Die nach-gewiesene Reduktion des Rauschbandenanteils und die Verringerung der Kurzzeitvariabilität der Grundfrequenz bei eingesetzter Oberkieferplatte sind ein starkes Argument für den positiven Einfluss der Oberkieferplatte auf die frühe vorsprachliche Entwicklung, wenn auch das Studiendesign den Nutzen einer kieferorthopädischen Frühbehandlung für den Sprech-/Spracherwerb nicht direkt belegen kann. Dafür wäre eine randomisierte klinische Studie mit einem Vergleich von Säuglingen mit und ohne kieferorthopädische Frühbehandlung erforderlich. Diese Pilotstudie liefert dafür eine wesentliche konzeptionelle Vorarbeit. Von klinischer Bedeutung in Bezug auf die Sprech- und Sprachentwicklung sind die Befunde der signifikant stabileren Kurzzeitvariabilität der mittleren Grundfrequenz und des verringerten Rauschanteils der Schreie bei eingesetzter Oberkieferplatte. Neben den bekannten Vorteilen der kieferorthopädischen Frühbehandlung wird mit der vorliegenden Arbeit erstmals ein Zusammenhang zwischen der Oberkieferplatte und ihrem möglicherweise stimmstabilisierenden Einfluss aufgezeigt.