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Die vorsprachliche Entwicklung ist durch eine zunehmend exaktere Koordination von laryngealer und supralaryngealer Aktivität gekennzeichnet und führt schließlich zur Produktion reifer Silben, die den segmentalen und zeitlichen Charakteristika von Silben der Erwachsenensprache entsprechen (Oller 2000). Das Auftreten erster reifer, muttersprachlich geprägter Silben kennzeichnet den Einstieg in die kanonische Babbelphase.
Da das Konsonantenrepertoire und die Silbenstrukturen in kanonischen Babbelvokalisationen und ersten Wörtern offenbar stark übereinstimmen, wird der kanonischen Babbelphase eine besondere Bedeutung für die frühe Identifikation von Auffälligkeiten in der produktiven Sprachentwicklung zugestanden (Oller et al. 1976, Locke 1983, Stoel-Gammon & Cooper 1984, Vihman et al. 1985, Vihman et al. 1986). Eine gewisse Vorhersagekraft wird zum Beispiel dem verspäteten Einstieg in die kanonische Babbelphase nach dem zehnten Lebensmonat nachgesagt (Oller et al. 1999). Auch Auffälligkeiten im Hinblick auf strukturelle (phonetische) Charakteristika von Babbelvokalisationen könnten eine indikative Valenz tragen (u.a. Stoel-Gammon 1989).
Kinder mit orofazialen Spalten durchlaufen die vorsprachliche Entwicklungsphase unter besonderen morphologischen Bedingungen, die zu massiven Einschränkungen in der artikulationsmotorischen Entwicklung führen. Möchte man bei diesen Kindern anhand der Analyse kanonischer Babbelvokalisationen Rückschlüsse auf spracherwerbsrelevante Fähigkeiten ziehen und so potentielle Risikokinder für sprachliche Auffälligkeiten identifizieren, stellt der maskierende Effekt der artikulationsmotorischen Einschränkungen eine Herausforderung dar. Eine mögliche Lösung könnte die Identifikation weitestgehend spaltunabhängiger Charakteristika kanonischer Babbelvokalisationen von Kindern mit OFS sein. Diesem Ziel widmete sich vorliegende Dissertation.
Dazu wurden die vorsprachlichen Komfortvokalisationen von 15 Kindern mit isolierter oder kombinierter Gaumenspalte unmittelbar vor und nach operativem Verschluss des Gaumens im Alter von 12 Monaten aufgezeichnet, aufbereitet und anhand ausgewählter Messgrößen quantitativ charakterisiert. Vergleichsbasis bildeten altersentsprechend aufgezeichnete vorsprachliche Komfortvokalisationen einer unauffälligen Kontrollgruppe.
Insgesamt gingen 6563 vorsprachliche Komfortvokalisationen in die Analysen zur Zusammensetzung des vorsprachlichen Vokalisationsrepertoires ein. Davon konnten 2333 Vokalisationen als kanonischer oder bunter Babbler identifiziert und für die weiteren Analysen herangezogen werden.
Im Ergebnis der Analysen konnten die relative Auftrittshäufigkeit von Babbelvokalisationen, die ausschließlich aus kanonischen Silben bestehen (reine Silbenfolgen), die relative Auftrittshäufigkeit von Ein-, Zwei-, Drei- und Mehrsilbern sowie die präferierte Silbenstruktur als relativ spaltunabhängige Messgrößen identifiziert werden. Bei allen weiteren Messgrößen waren große (Diff >10%) und teilweise statistisch signifikante Gruppenunterschiede zu verzeichnen und damit ein Einfluss der Malformation des Vokaltraktes auf diese anzunehmen.
Insbesondere für Untersuchungen, die auf Zusammenhänge mit und Prognosen für die weitere Sprachentwicklung anhand der Analyse vorsprachlicher Komfortvokalisationen abzielen, ist der maskierende Effekt der massiven artikulationsmotorischen Einschränkungen bei der Interpretation der Ergebnisse einzubeziehen.
Frühzeitig diagnostizierte und behandelte Säuglinge mit schwerer sensorineuraler Hörbeeinträchtigung schneiden bezüglich ihrer Sprech- und Sprachentwicklung besser ab als spät diagnostizierte Kinder. Bisher erfolgt die Evaluation des individuellen Benefits von getragenen Hörhilfen bzw. ihrer optimalen Einstellung bei Säuglingen und jüngeren Kleinkindern hauptsächlich durch verhaltensbeobachtende Methoden.
Die Würzburger Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, plastische und ästhetische Operationen war die erste Einrichtung deutschlandweit, die ein zweistufiges Neugeborenen-Hörscreening klinisch umgesetzt hat. Durch die frühe Identifikation sensorineuraler Hörbeeinträchtigungen bei Säuglingen hat sich auch der Therapiebeginn ins frühe Säuglingsalter verschoben. Dies macht ergänzende objektive Methoden zu gängigen medizinischen Testverfahren zur Evaluation der vokalen Entwicklung in Abhängigkeit von der Adjustierung der Hörhilfen erforderlich. Kooperationsprojekte zwischen der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, plastische und ästhetische Operationen und dem Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen der Poliklinik für Kieferorthopädie des Universitätsklinikums Würzburg haben das Ziel, die sprachentwicklungsrelevanten Schritte im ersten Lebensjahr in Abhängigkeit von der individuellen Hörleistung zu charakterisieren. Die vorliegende Arbeit ist in diese Projekte eingebettet.
Die retrospektiv angelegte Pilotstudie hatte das Ziel, die kanonische Babbelphase von vier vergleichbaren Säuglingen mit hochgradiger sensorineuraler Hörbeeinträchtigung mithilfe einer Methode zu untersuchen, die für hörgesunde Kinder entwickelt und bisher nur an Kindern mit orofazialer Spaltbildung getestet wurde. Es ging darum, geeignete Testsignale dieser Probanden in Form von kanonischen Babbellauten aus einem Repertoire von etwa 20000 Vokalisationen messtechnisch zu selektionieren und diese Signale dann mit der zu testenden Phonations-Interaktions-Analysemethode (PAI-Methode) zu analysieren. Dazu wurden in der finalen Messung 335 kanonische Babbelsilben ausgewertet. Es mussten geeignete Messgrößen erarbeitet und getestet werden sowie die Analyseergebnisse auf ihre Validität geprüft werden. Es wurden dabei sowohl frequenzbasierte als auch zeitliche Messgrößen analysiert.
Im Ergebnis der durchgeführten Analysen und Tests hat sich gezeigt, dass die PAI-Methode geeignet ist, um den Stand der Artikulationsentwicklung im Altersbereich der kanonischen Babbelphase zu evaluieren. Das gilt sowohl für die mit HDO-Hörgeräten versorgten Probanden als auch für die CI-Träger.
Die Testsignale, die hier verwendet wurden, stammen von Probanden, die eine sehr gute Sprech- und Sprachentwicklung gezeigt haben. Die retrospektive Auswertung lieferte bereits für das Babbelalter Messergebnisse, die Werte im Bereich der in der Literatur angegebenen Referenzbereiche für hörgesunde Kinder erbrachten. Damit hat die vorliegende Arbeit nicht nur die prinzipielle Eignung der PAI-Methode für die quantitative Charakterisierung der kanonischen Babbellaute demonstriert, sondern gleichzeitig belegt, dass pädaudiologisch gut versorgte Kinder bereits vor dem eigentlichen Sprachbeginn Artikulationsleistungen zeigen, die jenen hörgesunder Kinder im Verlauf ihrer Entwicklung entsprechen.
Methodische Einschränkungen fanden sich im Bereich des untersuchbaren Frequenzrepertoires und der hohen Störanfälligkeit für Hintergrundgeräusche. Die Möglichkeit einer diesbezüglichen Modifikation der Methode wäre zu prüfen. Diese Ergebnisse erlauben es nun in einem nächsten Schritt, einen systematischen Vergleich der Messgrößen zwischen hörgesunden und sensorineural hörbeeinträchtigten Kindern unter Einschluss der Hörtestergebnisse mithilfe der PAI-Methode vorzunehmen. Dazu scheinen besonders die hier analysierte Artikulationsgeschwindigkeit und weitere zeitliche Größen (Resonanzfrequenzübergangszeit, aktive Vokalartikulationszeit, exakte und mittlere Silbendauer) geeignet. Für weitergehende Untersuchungen und spezifische Vergleiche ist es jedoch zunächst erforderlich, für alle anderen hier untersuchten Kenngrößen kanonischer Babbellaute weitere systematische Untersuchungen an vergleichbar homogenen Datensätzen von sowohl hörgesunden als auch hörbeeinträchtigten Kindern vorzunehmen.