Refine
Has Fulltext
- yes (3)
Is part of the Bibliography
- yes (3)
Document Type
- Doctoral Thesis (3)
Language
- German (3)
Keywords
- Sprachentwicklung (3)
- vorsprachliche Entwicklung (2)
- Laryngeale Konstriktion (1)
- MD-Modell (1)
- Melodieintervall (1)
- Schreimelodie (1)
- laryngeal constriction (1)
- laryngeale Regelleistung (1)
Institute
- Poliklinik für Kieferorthopädie (3) (remove)
Sonstige beteiligte Institutionen
Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, intervallartige Substrukturen (Melodieintervalle) auf der Melodiekontur von Säuglingslauten im Längsschnitt über die ersten vier Lebensmonate zu analysieren. Melodieintervalle werden als eine Messgröße für die Kurzzeitvariabilität der Grundfrequenz (F0) und damit der laryngealen Regelleistung angesehen. Es sollte belegt werden, dass gesunde Säuglinge Melodieintervalle regelhaft erzeugen. Dabei war auch die Frage zu beantworten, ob Melodien mit Intervallen häufiger vorkommen als Melodien ohne Intervall über den Untersuchungszeitraum der ersten vier Lebensmonate. Neben Häufigkeitsanalysen sollten auch Analysen temporaler Eigenschaften erfolgen und Frequenzratios (Intervallgrößen) ermittelt werden. Langzeitziel dieser Analysen ist es, potenzielle Risikokinder einer späteren Sprech- und Sprachentwicklungsstörung so früh wie möglich anhand einer nicht-invasiven Vorsprachlichen Diagnostik identifizieren zu können.
Aus einem Gesamtdatenkorpus von 6130 Vokalisationen wurden in einer komplexen Vorselektierungs-Routine mittels audio-visueller Analyse insgesamt 3114 Vokalisationen für die finalen Melodieintervallanalysen als geeignet befunden. Unter Methodenmodifikation zu Vorarbeiten, wie einer herabgesetzten Plateaumindestlänge auf 50 ms und unter Einbezug rhythmisch-segmentierter Vokalisationen in die Analysen wurden die Aufnahmen anhand von Melodie- und Intensitätsdiagrammen sowie semi-automatisch zugehörigen Messroutinen im Cry-Data-Analysis-Program (CDAP) analysiert und Melodieintervalle vermessen. Des Weiteren wurden Analysen der Melodiestrukturkategorien, die den Komplexitätsgrad der Konturen reflektieren, und der Bogenformen (Intonation) durchgeführt, um das Auftreten identifizierter Intervallcodes und deren Muster zu diesen in Bezug zu setzen. Das melodische Einzelintervall (Plateau-Übergang-Plateau) wurde als Modul definiert, das zu Doppelintervallen und noch komplexeren Kombinationen unterschiedlicher Codes und Muster zusammengesetzt wird. Das Repertoire dieser Kombinationsmuster wurde in der Arbeit detailliert aufgezeigt. Ein Modul-Vergleich der steigenden und fallenden Einzelintervalle in Einfach- und Doppelbögen konnte eine hohe Übereinstimmung hinsichtlich spezieller Messgrößen, insbesondere der steigenden Intervalle, belegen. Für die über den Untersuchungszeitraum analysierten Auftrittshäufigkeiten der Intervalle konnte mittels einer verallgemeinerten Schätzgleichung (GEE-Model) eine signifikante Zunahme des Intervallauftretens festgestellt werden, die durch einen nichtlinearen Alterseffekt gekennzeichnet war. Die Intervallkomplexität nahm linear signifikant mit dem Lebensalter zu. Es wurden keine Geschlechtseffekte festgestellt. Als vorherrschende Intervallgröße wurde die kleine Sekunde (Halbton) über den Untersuchungszeitraum gefunden. Die Intervallgrößen und ein Großteil der Analysen der temporalen Messgrößen erfolgte auf signalbasierter Ebene und wurde deskriptiv vergleichend zwischen den Richtungen bzw. den Mustern der Intervalle untersucht und als Referenzwerte in umfangreichen Tabellen berichtet. Die Ergebnisse vorliegender Arbeit belegten durch Analysen unterschiedlicher Messgrößen, wie z.B. dem Komplexitätsgrad der Melodie und deren regelrechter Entwicklung mit dem Alter, dass alle hier analysierten Vokalisationen von Probanden stammten, die sich unauffällig entwickelten. Somit wurde sichergestellt, dass die erarbeiteten Referenzwerte für nachfolgende Studien die Verhältnisse bei gesunden Säuglingen widerspiegeln. Die Ergebnisse vorliegender Arbeit sollen als vorläufige Vergleichswerte für geplante Analysen an Vokalisationen von Säuglingen mit orofazialen Spaltbildungen dienen.
Die vorliegende Arbeit liefert einen Beitrag zum Thema laryngeale Konstriktionen, welche in der Fachliteratur als Vorläufer des silbischen Sprechvermögens interpretiert und gehäuft bei hörbeeinträchtigten Säuglingen vorkommend angenommen werden. In der Fachliteratur sind bisher keine systematischen Untersuchungen oder Vergleiche der Auftrittshäufigkeiten und Ausprägungsformen laryngealer Konstriktionsphänomene zwischen normalhörenden und hörbeeinträchtigten Säuglingen publiziert. Dabei könnten Unterschiede in den Ausprägungsformen und Auftrittshäufigkeiten laryngealer Konstriktionen zwischen normalhörenden und hörbeeinträchtigten Säuglingen frühzeitig zusätzliche Hinweise für eine mögliche Hörstörung liefern. Daneben könnte auch die Analyse temporaler Eigenschaften laryngealer Konstriktionsphänomene zum besseren Verständnis laryngealer Konstriktionen im Rahmen des Phonationsregelnetzwerkes beitragen.
Die Arbeit erfolgte im Rahmen einer Kohortenstudie, die den Vergleich des Lautrepertoires bzw. artikulatorischer Eigenschaften von Komfortvokalisationen (Nicht Schreilaute) zwischen normalhörenden und hörbeeinträchtigten Säuglingen zum Ziel hatte. Im Detail lag der Fokus der vorliegenden Arbeit darin, dem kaum untersuchten Phänomen der laryngealen Konstriktionen erstmalig systematisch nachzugehen und den möglichen Einfluss einer hochgradig sensorineuralen Hörschädigung auf die Auftrittshäufigkeiten und Ausprägungsformen laryngealer Konstriktionen explorativ zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurden in der vorliegenden Arbeit quantitative und qualitative Eigenschaften laryngealer Konstriktionsphänomene in Komfortvokalisationen von normalhörenden (Gruppe NH) und hochgradig hörbeeinträchtigten Säuglingen (Gruppe HI) durch auditive und spektrographische Analysen untersucht. Exemplarisch sollten an einer Teilmenge auch die temporalen Eigenschaften laryngealer Konstriktionsphänomene erstmalig untersucht werden.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigten, dass die reine Auftrittshäufigkeit laryngealer Konstriktionen zu keiner Differenzierung zwischen den hier untersuchten Probandengruppen beitrug. Auch die qualitativen Eigenschaften laryngealer Konstriktionen wurden von beiden Probandengruppen gleichermaßen spielerisch und damit sehr variabel genutzt und folgten keinem erkennbaren intentionalen Verhalten. Das eindrucksvollste Ergebnis der vorliegenden Arbeit zeigte sich in der Analyse der temporalen Eigenschaften laryngealer Konstriktionen, die durch die Hörbeeinträchtigung maßgeblich beeinflusst werden. Für die zeitliche Organisation der Lautproduktion ist hier offensichtlich nicht allein die kinästhetische Rückkopplung entscheidend, sondern alle an der Regelung beteiligten Rückkoppelungsmechanismen, inklusive der auditiven Rückkopplung.
In der vorliegenden Arbeit wurde die Melodiestrukturentwicklung im zweiten Lebenshalbjahr, exemplarisch an zehn gesunden Säuglingen mit deutscher Umgebungssprache, untersucht. Zusammen mit den zuvor erhobenen und vorliegenden Ergebnissen der ersten sechs Lebensmonate (Kottmann, 2023) war erstmalig eine systematische Längsschnittanalyse über das gesamte erste Lebensjahr möglich. Mithilfe des Lautanalyseprogramms CDAP wurden für die vorliegende Arbeit 4686 frühkindliche Lautaufahmen bezüglich ihres Melodiekonturverlaufs sowie ihrer auditiv und visuell wahrnehmbaren Feinstrukturmerkmale detailliert analysiert und ausgewertet. Der Datensatz spiegelt repräsentativ das typische Lautrepertoire von Säuglingen im zweiten Lebenshalbjahr mit den hier untersuchten Komfort-Vokalisationstypen wider: Übergangslaute, marginale und kanonische Babbellaute. In Übereinstimmung mit dem von Wermke und Mende postulierten MD-Modell, das eine vokalisationstyp-übergreifende Komplexitätszunahme frühkindlicher Lautäußerungen beschreibt, konnten erstmals die regelhaften Entwicklungsverläufe im zweiten Lebenshalbjahr gezeigt und ausführlich benannt werden. Dabei scheint die Zunahme der Komplexität vor allem im Zusammenhang mit artikulatorischen Reifeprozessen zu stehen. In der Melodie selbst fiel diesbezüglich vor allem der Einbau von Segmentierungen auf. Diese innermelodischen Unterbrechungen können wiederum als Vorläufer linguistischer Strukturen, wie beispielsweise Silben, angesehen werden. Der Übergang von einfachen zu fortgeschritteneren Vokalisationen, bis hin zu den ersten Wörtern, ist fließend. Zukünftig wäre für weitere empirische Untersuchungen interessant, inwiefern sich der Grundfrequenzverlauf zunehmend zur suprasegmentalen Intonationskurve entwickelt, was sich bereits in den durchgeführten Analysen angedeutet hat. Die kontinuierlich wachsende Kontrolle des Säuglings über den Vokaltrakt mit zunehmend gezielter Reproduktion erlernter Lautstrukturen wird durch die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit belegt. Sie liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Sprachentwicklung von Säuglingen und ermöglicht durch die Erkenntnisse der physiologisch ablaufenden Prozesse eine vorsprachliche Diagnostik, eine frühzeitige Intervention und Förderung der Sprache. Vor allem der Beginn des Babbelns scheint hierbei eine wichtige Evaluationsgröße zu sein.