610 Medizin und Gesundheit
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Frühkindliche Lautäußerungen lassen sich aus entwicklungsdiagnostischer Perspektive am besten anhand unterschiedlicher Melodieeigenschaften charakterisieren. Eine Analyse dieser Eigenschaften bei unauffälligen Kindern am ZVES dient dazu, Referenzwerte für geeignete Messgrößen zu erarbeiten und diese für Vergleiche mit Risikokindern für Sprech-/Sprachstörungen zu nutzen. Intervallartige Strukturen könnten aufgrund der Stabilität ihrer Eigenschaften geeignete Kandidaten für die Entwicklung potentieller Risikomarker sein. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, intervallartige Strukturen in spontanen Lautproduktionen gesunder Säuglinge zu identifizieren und quantitativ zu analysieren. Es wurden Lautäußerungen über einen Zeitraum der ersten 16 Lebenswochen von Säuglingen längsschnittlich ausgewertet. Die Lautaufnahmen lagen in Form anonymisierter Audiofiles im Datenarchiv am Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen (ZVES) vor. Eine Vorauswahl geeigneter Vokalisationen erfolgte anhand einer audio-visuellen Auswertung ihrer Frequenzspektren. Vokalisationen (spontanes Weinen) mit klarer, ungestörter (noise-free) Melodie wurden mit Hilfe des Programms CDAP (pw-project©) bezüglich ihrer Intervallphänomene analysiert.
Es zeigte sich, dass in fast der Hälfte aller untersuchten Melodien Intervallstrukturen identifiziert werden konnten. Den Hauptanteil bildete die Gruppe der isolierten Einzelintervalle, gefolgt von der Gruppe der Vokalisationen mit zwei zusammenhängenden Intervallen in der Melodie. Beide machten knapp ¾ der Gesamtzahl aus. Intervalle wurden bezüglich ihrer Intervallrichtung (steigend bzw. fallend), der zeitlichen Längen einzelner Elemente sowie der mittleren Grundfrequenz der beiden Plateaus untersucht. Auffällig war der höhere Anteil fallender Intervalle gegenüber steigenden Intervallen. Dies wurde hypothetisch mit einer Tendenz zum deutschen fallenden Intonationsmuster interpretiert. Die zeitlichen Längen der fallenden Intervalle zeigten auch eine geringere Variabilität. Insgesamt ließ sich bezüglich der zeitlichen Längen einzelner Intervallelemente (vorderes/ hinteres Plateau, Übergang) eine erstaunliche Stabilität über den Untersuchungszeitraum feststellen. Die Konstanz der zeitlichen Größen stützt die Annahme, dass Intervallphänomene geeignete Risikomarker liefern könnten. Dazu sind entsprechende Vergleichsuntersuchungen in nachfolgenden Arbeiten notwendig.
Auch die Beobachtung des „Isochronie-Phänomens“ der vorderen und hinteren Plateaulängen stützt die sehr geringe Variabilität der Zeitgrößen, die der Intervallerzeugung zu Grunde liegen. Alle Phänomene traten unabhängig von der individuellen Tonlage der Säuglinge beim Weinen auf.
In hoher Übereinstimmung mit Vorarbeiten zu Intervallstrukturen bei Neugeborenen und Untersuchungen von Sprechmelodien und deren Wahrnehmung wurde ein enger Bereich um den musikalischen Halbton als präferiertes Intervall identifiziert. Auch zeigte sich eine stabile Verteilung der Intervalle mit einer Abnahme vom Halbton zu größeren Intervallen im gesamten Untersuchungszeitraum.
Um die Befunde besser erklären zu können, sind weitere Untersuchungen notwendig. Dabei wäre ein noch größerer Datensatz wünschenswert. Eine Betrachtung eines noch längeren Zeitraums würde klären, ob sich das Vorherrschen fallender Intervalle auch in Komfortvokalisationen (Babbeln) zeigt oder sich sogar noch deutlicher darstellt. Dies würde die Annahme eines Zusammenhangs mit der späteren Sprachintonation stützen.
Nicht berücksichtigt wurde in der Arbeit der Zusammenhang der Intervallbildung mit der Intensität. Da die Intervallperzeption intensitätsabhängig ist, wird die Einbeziehung dieser Größe in zukünftigen Untersuchungen vorgeschlagen.
SGA (“small for gestational age”)-Neugeborene weisen eine intrauterine Wachstumsretardierung auf. Die weitere Entwicklung vieler dieser Kinder ist von veränderten physiologischen Mechanismen beeinflusst und unterscheidet sich dadurch von der ehemaliger AGA(“appropriate for gestational age”)-Neugeborener. Diese Unterschiede betreffen beispielsweise biochemische, hormonelle, neurologische und kognitive Funktionen. Die Absicht dieser Studie war heraus zu finden, ob sich SGA-Neugeborene außerdem in speziellen Schreieigenschaften von AGA-Neugeborenen unterscheiden. Die Klassifikation Neugeborener in SGA, AGA und LGA ("large for gestational age”) basiert auf somatischen Werten Neugeborener in Bezug auf ihr Gestationsalter. SGA-Neugeborene liegen mit ihrem Geburtsgewicht unter der 10. Perzentile. In dieser Studie wurden spontane Schreie von 16 gesunden Neugeborenen (davon 9 weibl.) untersucht (ohne Dysmorphien, ohne Intubation, ohne schwere Asphyxie). Es wurden pro Kind 2-3 Aufnahmen während des Aufenthaltes in der Universitäts-Kinderklinik angefertigt. Der erste Aufnahmezeitraum erfolgte während des 1.-3. Lebenstages, der zweite während des 4.-5.d, und in einigen Fällen erfolgte eine dritte Aufnahme während des 6.-14.d. Die Schreieigenschaften der SGA-Neugeborenen wurden mit denen der AGA-Neugeborenen verglichen. Die Ergebnisse bestätigen unsere Hypothese, dass eine intrauterine Wachstumsretardierung die Schreimuster beeinflusst. Die Entwicklung während der ersten 2 Lebenswochen von einfachen zu komplexeren Melodiestrukturen zeigten sowohl die SGA- als auch die AGA-Neugeborenen. Allerdings benötigten die SGA-Neugeborenen einen längeren Zeitraum, um die gleiche Melodiekomplexität wie die AGA-Neugeborenen zu erreichen.
In der vorliegenden Arbeit wurden Lautäußerungen von Säuglingen mit orofazialen Spalten im Alter von der 9. bis zur 16. Lebenswoche untersucht. In diesem Alter treten erste prä-artikulatorische Phänomene auf, die den Übergang von der anfänglich nur durch phonatorische Mechanismen bestimmten Lautproduktion zur phonatorisch-artikulatorischen Lautproduktion charakterisieren. Dies ist ein essentieller Entwicklungsschritt für die spätere Sprechfähigkeit. Orofaziale Spalten gehen häufig mit späteren Sprech- und Sprachstörungen einher. Dies äußert sich z. B. in einer Nasalisierung von Vokalen (Hardin und Grunwell, 1998; Kummer et al., 1992). Sprech- und Spracherwerb beginnen nicht erst, wenn die ersten Worte produziert werden, sondern faktisch unmittelbar nach der Geburt. Wesentliche Komponenten der für das spätere Sprechen erforderlichen, fein kontrollierten Abstimmung zwischen respiratorischen, phonatorischen und artikulatorischen Mechanismen werden bereits im Verlauf des ersten Lebensjahres erworben. Das für eine unauffällige Sprechentwicklung erforderliche vorsprachliche Entwicklungsprogramm erreicht im Alter von drei bis vier Monaten eine kritische Phase. Nachdem im Weinen der ersten beiden Lebensmonate die Abstimmung zwischen respiratorischen und phonatorischen Prozessen „geübt“ wurde und im Ergebnis zunehmend komplexere Schreimelodien und rhythmische Lautvariationen erzeugt werden, beginnt mit drei bis vier Monaten (Wermke et al., 2005) die Abstimmung zwischen Phonation und Artikulation. Das erfolgreiche Absolvieren dieses bedeutsamen Entwicklungsschrittes ist möglicherweise eine Grundvoraussetzung für eine nachfolgende unauffällige Sprach- und Sprechentwicklung. Säuglinge mit orofazialen Spalten sind bezüglich dieser Entwicklung aufgrund ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Vokaltraktmalformationen und der damit verbundenen Funktions-einschränkungen der orofazialen Muskulatur erheblich benachteiligt. Durch die Auswertung von 871 Lautäußerungen von 12 Säuglingen mit orofazialen Spalten konnten prä-artikulatorische Vorgänge bei diesen Kindern erstmalig quantitativ charakterisiert werden. Dazu wurden Spektralanalysen, Melodieanalysen und Resonanzfrequenzanalysen durchgeführt und relevante Parameter berechnet. Die Untersuchung basiert auf dem durch Voruntersuchungen erarbeiteten Konzept, dass die Entwicklung der Artikulation mit einer Abstimmung (Tuning) zwischen laryngeal erzeugter Melodie und im Vokaltrakt erzeugten Resonanzfrequenzen beginnt. Im weiteren Verlauf der Entwicklung kommt es zu schnellen Übergängen von Resonanzfrequenzen zwischen den Harmonischen und der Melodie (Wermke et al., 2005). Auf diese Weise werden erste vokalähnliche Laute erzeugt und die für das spätere Babbeln erforderlichen Vorübungen absolviert. Die Auswertung dieser Entwicklungsschritte bei den hier untersuchten Schreien von Säuglingen mit orofazialen Spalten zeigte eine leichte Entwicklungsverzögerung dieser Kinder im Vergleich zu einer altersgleichen Kontrollgruppe von Säuglingen ohne orofaziale Spalten. Erstmalig konnten aber in der vorliegenden Arbeit solche Verzögerungen durch geeignete Messgrößen quantitativ charakterisiert werden. Neben einer generellen Entwicklungsverzögerung bezüglich erster artikulatorischer Aktivitäten der Spaltgruppe, gegenüber der zu Referenzzwecken herangezogenen Kontrollgruppe, wurden aber gleichzeitig große interindividuelle Unterschiede zwischen den Säuglingen mit orofazialen Spalten gefunden. Dies war zu erwarten, da Individuen mit orofazialen Spalten eine sehr heterogene Population darstellen, die darauf beruht, dass eine orofaziale Spaltbildung keine spezifische Erkrankung, sondern vielmehr ein Symptom vieler möglicher gestörter Entwicklungsprozesse darstellt. Selbst innerhalb einer Gruppe von Kindern gleichen Spalttyps gibt es teilweise erhebliche interindividuelle Entwicklungsunterschiede. Ein zu Beginn der Studie erwarteter Einfluss der Platte auf die beginnende vorsprachliche Artikulation konnte aufgrund der vorliegenden Datenbasis und der o. g. interindividuellen Unterschiede nicht nachgewiesen werden.
In den letzten Jahren sind verschiedene Studien erschienen, die die positive Wirkung von Musik zur Frühförderung von Kindern untersucht haben. Im Sinne dieser Studien wurden auch verschiedene Therapieprogramme, die auf traditionellen musiktherapeutischen Konzepten basieren, entwickelt. Neueste Arbeiten unterstützen eine spezifische Wirkung der musikalischen Frühförderung: sie kann den Spracherwerb fördern. Säuglinge mit orofazialen Spalten arbeiten z. B. in einer Klinik in Los Angeles, USA, mit Hilfe von Musik an ihren Sprachproblemen. Die vorliegende Arbeit hatte das Ziel auf der Basis moderner Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften Argumente für die positive Wirkung von musikalischer Frühförderung auf den Spracherwerb bei Kindern mit orofazialen Spalten zusammenzutragen und einen solchen Ansatz durch wissenschaftliche Ergebnisse zu begründen. Die spezifische Wirkung von Musik auf den Spracherwerb, so konnte gezeigt werden, basiert u. a. auf folgenden Befunden: a. Es existieren gemeinsame hirnphysiologische Produktions- und Verarbeitungsmechanismen von Melodie und Rhythmus in der Musik und der gesprochenen Sprache. b. Prosodische Elemente der Sprache, wie die Melodie und der Rhythmus, werden unter starker Beteiligung der rechten Hemisphäre verarbeitet. So konnte u. a. gezeigt werden, dass hirnphysiologische Reaktionen bei jungen Musikschülern (Thomanerchor) auf sprachliche Syntaxverletzungen stärker ausfallen als bei gleichaltrigen Nichtmusikern. c. Die rechte Hemisphäre, in der auch Musik verarbeitet wird, ist bei der vorsprachlichen Lautproduktion der Säuglinge die dominierende. Es gibt große Ähnlichkeiten bei der zerebralen Verarbeitung von Melodie und Rhythmus von „Säuglingssprache“ und Musik. d. Neuere hirnphysiologische Untersuchungen belegen, dass ein musikalisches Training nachweislich funktionelle Korrelate in bestimmten Gehirnregionen zeigt und eine positive Wirkung auf den Spracherwerbprozess auszuüben scheint. Es konnte gezeigt werden, dass überlappende Verarbeitungsregionen in beiden Gehirnhälften, sowohl für musikalische als auch für sprachliche Informationen verantwortlich sind. Die Ergebnisse neuer Forschungen, die eine starke Beteiligung der rechten Hemisphäre in der Verarbeitung prosodischer Charakteristiken der Sprache, wie z. B. die Melodie und der Rhythmus belegen, wurden dargestellt und die alte Ansichten über eine ausschließliche Verarbeitung sprachlicher Informationen in der linken Hemisphäre wurden widerlegt. Die Bedeutung der rechten Gehirnhälfte für die vorsprachliche Lautproduktion der Säuglinge wurde herausgearbeitet und daraus der Nutzen einer intensiven akustischen Förderung unter Anwendung speziell entwickelte Stimuli, für eine korrekte spätere Sprachentwicklung bei Kindern mit orofazialen Spalten abgeleitet. Die Auswahl der Musik sollte sich an den in der Arbeit beschriebenen musikalischen Verarbeitungsleistungen der Säuglinge orientieren, um eine individuelle und auf die Bedürfnisse jedes Säuglings mit orofazialer Spalte angepasste musikalische Stimulation zu erreichen. Diese Bedürfnisse können anhand der vorsprachlichen Entwicklungsprofile, wie sie für jeden Säugling am ZVES (Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen) erstellt werden, charakterisiert werden. Im Ergebnis der umfangreichen Literaturstudien zu allen für das gestellte Thema relevanten Aspekten und unter Verwendung der im ZVES gesammelten praktischen Erfahrungen wurde eine Forschungskonzeption zum Nachweis der Wirkung einer musikalischern Frühförderung auf den Spracherwerb erarbeitet. Für Säuglinge mit orofazialen Spalten ist eine individuelle Therapie notwendig, da sich die Kinder bezüglich ihrer individuellen Entwicklungsbedingungen stark unterschieden.